François Ozon: Nicht nur die Atmosphäre war vergiftet

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Der Filmregisseur erzählt in „Wenn der Herbst naht“ vom Schicksal zweier älterer Frauen, die einst Sexarbeiterinnen gewesen waren.

Von: Susanne Lintl

Valérie erleidet eine Pilzvergiftung und muss ins Krankenhaus. Deren Mutter Michelle bleibt unversehrt – sie hat nichts von dem Gericht gegessen. Valérie (dargestellt von Ludivine Sagnier) beschuldigt daraufhin ihre Mutter, sie umbringen zu wollen. Michelle beteuert ihre Unschuld und sucht Trost bei ihrer Freundin, Marie-Claude, mit der sie eine turbulente Vergangenheit verbindet.

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Jeder Film ist für ihn ein neues Abenteuer: François Ozon. 

In der Idylle eines kleinen Dorfes im Burgund siedelt François Ozon, der Tausendsassa unter den französischen Regisseuren, seine Tragikomödie „Wenn der Herbst naht“ (im Original „Quand vient l’automne“) an. Er erzählt von den Sorgen und Alltagsfreuden zweier alter Damen, vom gestörten Verhältnis beider zu ihren Kindern und der Skepsis der Dorfbewohner gegenüber Michelle und Marie-Claude. Die Frauen umgibt ein schlüpfriges Geheimnis: Beide waren Sexarbeiterinnen. Schämen wollen sie sich dafür nicht.

Keine Karikaturen

„Ich wollte wieder einmal mit älteren Frauen drehen, das war der Ausgangspunkt für den Film“, erzählt François Ozon. „Nach ,Mon Crime‘, wo ich mit so vielen jungen Frauen arbeitete, hatte ich das Bedürfnis, reife Frauen sichtbar zu machen. Die sind ja heutzutage weitgehend weg aus dem Kino, und wenn sie gezeigt werden, dann meist als Karikatur. Als wunderliche Oma oder verrückte Alte. Das geht mir gegen den Strich. Man kann Frauen mit 70 oder 80 doch auch zeigen, wie sie wirklich aussehen und sich benehmen, oder?“

Nach seinen zwei Heldinnen brauchte Ozon nicht lange suchen, er kannte sie bereits. Bei „Grace à Dieu“, seinem Film über einen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche 2019, hatte er mit Hélène Vincent (Michelle) und Josiane Balasko (Marie-Claude) zusammengearbeitet. „Es war schon damals eine Freude, mit ihnen zu drehen. Sie sind unkompliziert und pflegeleicht. Und, das Wichtigste, die Chemie zwischen ihnen stimmt. Sie mögen sich wirklich, und das, obwohl sie aus verschiedenen Welten kommen. Hélène war sehr erfolgreich am Theater und ist dort groß geworden, während Josiane ihren Weg über populäre Kinokomödien gemacht hat. Aber vielleicht hat dieser unterschiedliche Werdegang auch dazu beigetragen, dass sie sich so gut verstehen. Es gab keinerlei Neid oder Eifersucht.“

Die Geschichte mit der Pilzvergiftung hat sich Ozon nicht aus den Fingern gesogen: „Ich hatte eine Großtante, die ich sehr mochte. Einmal lud sie zu einem Familienessen ein, bei dem sie Schwammerlsauce servierte. Alle wurden danach krank und mussten ins Krankenhaus – alle außer meiner Tante, die das Essen nicht anrührte, und mir. Mit sechs Jahren wollte ich keine Pilze essen. Die ganze Verwandtschaft war außer sich vor Zorn und warf meiner Großtante vor, sie ausrotten zu wollen. Sie schimpften sie eine Kriminelle. Die Atmosphäre in der Familie war vergiftet.“

Seltsame Dinge

Ozons Familie stammt aus der Bourgogne, daher war der Dreh vor Ort für ihn wie eine Zeitmaschine in die Kindheit. „Ich mag die Region sehr, war dort als Bub sehr viel. Es ist interessanterweise eine Region, die in Filmen nur selten vorkommt, weil sie unspektakulär ist. Aber ich habe die Wälder und endlosen Felder und die Dörfer immer geliebt. Es wirkt zwar alles ein bisschen trist, weil es dort nach dem Schließen einiger Industriebetriebe viel Abwanderung gibt. Trotzdem mag ich die Atmosphäre: Alles geht seinen Gang, alles ist eingespielt. Nur manchmal passieren seltsame Dinge.“

„Wenn der Herbst naht“ ist auch eine Hommage an das zärtliche Band zwischen Großmutter und Enkelkind. Fließen da auch eigene Erinnerungen ein? „Ja, ich habe meine Großmutter sehr geliebt. Die Beziehung zu den Großeltern ist immer eine ganz spezielle. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal einen Schulkameraden mit zu meiner Oma genommen habe und dann völlig außer mir war, weil er trocken meinte, sie sehe aus wie eine Schlampe. Sie war noch jung für eine Oma, in ihren Fünfzigern, rauchte, war eine auffällige Frau, hatte große Brüste. Es regte mich total auf, dass der Typ so was sagte. Als ich dann allerdings seine Großmutter sah, war mir klar, wieso er gelästert hatte. Die war genau so, wie du dir ein altes Mütterchen vorstellst. Total unsexy, einfach alt. Seit diesem Vorfall sah ich meine Oma mit anderen Augen.“

Ozon ist ein Vielarbeiter, jedes Jahr liefert er zumindest einen Film ab. Was treibt ihn an, so produktiv zu sein? „Es macht mir einfach Spaß, Filme zu drehen, daher finde ich es normal, immer gleich das nächste Projekt zu planen. Außerdem ist jeder meiner Filme anders, ein neues Abenteuer. Ja, ich habe noch viel Kraft.“ Ozons nächster Film ist übrigens schon fertig und bei den Filmfestspielen in Venedig zu sehen: „L’Étranger“ nach dem Roman von Albert Camus mit Benjamin Voisin in der Hauptrolle.

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