Filmkritik zu "Stronger": Stummer Schrei ins Handtuch

Tatiana Maslany und Jake Gyllenhaal in "Stronger"
Jake Gyllenhaal verliert als Bomben-Opfer bei dem Marathon in Boston beide Beine und wird als Nationalheld gefeiert.

„Deine verdammten Beine, sie sind weg, Bruder!“

Wahrscheinlich gäbe es einfühlsamere Möglichkeiten, einem Schwerverletzten, der gerade aus dem Koma erwacht, die traurige Nachricht zu überbringen: Dass seine beiden Beine über dem Knie amputiert werden mussten.

Jeff Bauman war einer jener Menschen, die im Jahr 2013 beim Bombenanschlag auf den Bostoner Marathon schwer verletzt wurden. Bauman hatte sich hinter der Zielgeraden postiert, um dort den Endspurt seiner Ex-Freundin Erin zu bejubeln. Er hoffte, die angeschlagene Beziehung zu retten und seinen Ruf als sympathischen, aber unzuverlässigen Loser zu rehabilitieren. Die Detonation riss ihm beide Beine weg, sein Leben verdankte er dem Einsatz eines Passanten.

In der öffentlichen Wahrnehmung wurde Bauman, der der Polizei auch bei der Identifizierung des Attentäters half, umgehend zum Helden stilisiert: Für den Slogan „ Boston Strong“ verkörperte er den Symbolträger.

Held wider Willen

Doch wie fühlt sich ein gefeierter Nationalheld, wenn er hilflos vom Klo fällt und ins Handtuch brüllt, damit die Verwandten nebenan nichts von seiner Verzweiflung bemerken? Wenn die Mutter – immer mit einem Bein im Alkoholismus – Talkshow-Masterin Oprah Winfrey einlädt, um sich mit ihrem Sohn zu brüsten? Wenn einen jede zweite Großveranstaltung zum patriotischen Fahnenschwingen engagieren will?

Dem wählerischen Regisseur David Gordon Green („Prince Avalanche“) gelingt es, ein potenziell kitschiges Survival-Rührstück mit patriotischen Durchhalte-Parolen („Wir lassen uns von denen – gemeint sind die Terroristen – nicht unterkriegen!“) in ein sensibles, emotional durchartikuliertes Drama umzumünzen.

Der unermüdliche Jake Gyllenhaal spielt seinen labilen Helden mit dem Temperament eines renitenten Kindes, dem man den Helden-Mythos wie ein zu großes Kleidungsstück übergezogen hat. Die Welt will in ihm einen unbeugsamen Kämpfer sehen, der sein tragisches Schicksal tapfer meistert, doch Jeff greift lieber zum Bier und versäumt verkatert seine Rehab-Stunden.

Großartig auch Miranda Richardson in ihrer Rolle als mütterliche Schnapsdrossel, die ihren Bubi nicht mit seiner Freundin teilen möchte und zur emotionalen Übergriffigkeit neigt.

David Gordon Green hat ein scharfes Auge für Jeffs untere weiße Mittelschichtsfamilie und deren lärmende Rituale. Schwelendem, dem Genre inhärenten, Heroismus, setzt er rüpelnde Bierrunden entgegen, ohne das Milieu zu denunzieren. Gleichzeitig lotet er die angespannte Beziehung zwischen Jeff und seiner Freundin (hervorragend: Tatiana Maslany) zartbesaitet aus – bis hin zum emotionalen Showdown. „Stronger“ funktioniert als klassisch erzähltes, gefühlvolles Drama mit unpeinlichem Meanstream-Appeal – und trägt eine Träne im Knopfloch.

INFO:  USA 2017. 119 Min. Von David Gordon Green. Mit Jake Gyllenhaal, Miranda Richardson.

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