„Poor Things“ ist Lanthimos’ bislang gefälligster Film und lädt die Zuschauer offen zum komplizenhaften Gelächter ein. Adaptiert von einer Vorlage des schottischen Autors Alasdair Gray, kommt er der Gattung Komödie am nächsten – und punktet mit toller Besetzung.
Emma Stone – seit „La La Land“ Oscarpreisträgerin – zieht als Schauspielerin völlig neue Register. Furchtlos (und oft nackt) stürzt sie sich in die Rolle der Bella Baxter, eine Art weibliche Version von Frankensteins „Monster“: Bella hat den Körper einer erwachsenen Frau, in deren Kopf das Gehirn eines Säuglings steckt. Zusammengeflickt wurde sie unter grausamen Umständen von einem Wissenschafter namens Godwin Baxter; Bella spricht ihn mit „God“ an und behandelt ihn wie ihren Vater.
„God“ Baxter wird gespielt von Willem Dafoe, dessen vernarbtes Gesicht die Spuren seines eigenen Vaters, eines sadistischen Wissenschafters, trägt. „God“ rülpst Seifenblasen und macht chirurgische Experimente: Seinem Labor entspringen Dackeln mit Entenschnäbeln, Hühner mit Schweinsköpfen – und Bella Baxter. Ein frisch engagierter Assistent soll die Frau im Kinderkörper beobachten und ihren Fortschritt („15 neue Wörter pro Tag!“) dokumentieren. Denn Bella lernt schnell.
Schamlos
Noch stakst die umwerfende Emma Stone mit den unsicheren Schritten eines Kleinkinds durch die Gänge, spielt mit den Füßen Klavier und schmeißt mit Essen um sich.
Vor allem aber kennt sie eines nicht: Scham.
Einmal auf den Geschmack gekommen (dank eines Apfels!), ist ihre Lust auf Sex ungezügelt. „Furious humping!“ gehört ab sofort zu ihrer Lieblingsbeschäftigung. Das reißt nicht nur ihren abgefeimten Verehrer Duncan Wedderburn – herrlich zerknautscht gespielt von Mark Ruffalo – vom Sockel, sondern die gesamte Männerwelt. Mit Duncan geht Bella auf Reisen und mischt die großstädtischen Salons der besseren Gesellschaft auf. Die schräge Fischaugenperspektive von Kameramann Robbie Ryan liefert parodistische Blicke auf das viktorianische Zeitalter; und Lanthimos inszeniert seine retro-futuristischen Oberflächen mit ausschweifendem Studiodekor zwischen Puffärmel und Puff: Dort setzt Bella ihre erotische Weiterbildung fort.
Ihr Coming-of-Age-Prozess wird zum kühnen Befreiungsritt durch die Landschaft männlicher Bevormundung und endet im entspannten Matriarchat.
Bleibt die Frage: Ist Bellas Selbstfindung als Sexarbeiterin, die für jede Stellung im Bett zu haben ist und keinen Mann mit anhänglichen Gefühlen belästigt, tatsächlich feministische Emanzipationsgeschichte? Oder handelt es sich nicht doch vielmehr um eine Männerfantasie, die von einer sexuell enthemmten, weil naiven Kindfrau träumt?
Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn jedenfalls kann mit der Erfüllung einer solchen Wunschvorstellung gar nicht umgehen. Er verwandelt sich in ein heulendes Kleinkind und wird dadurch zu einem der lustigsten, weil erbärmlichsten „Poor Things“ unter allen „Armen Dingern“.
INFO: IRL/GB/USA 2023. 141 Min. Von Yorgos Lanthimos. Mit Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe.
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