Im Kino lässt sich die Zuneigung zu edlen Kleidungsstoffen gut mit romantischen Beziehungen vernähen. „Am seidenen Faden“ nannte Regisseur Paul Thomas Anderson sein giftiges Liebesdrama zwischen einem Herrenschneider und seiner Angestellten. Schon viel süßlicher geht es in dem beschwingt-gefälligen Kinodebüt der deutsch-griechischen Filmemacherin Sonia Liza Kenterman zu.
Kenterman erzählt vom Niedergang einer Zunft, deren große Kunst in der Maßarbeit besteht. Doch im krisengebeutelten Athen haben sich die Zeiten geändert. Das Geld ist knapp. Vorbei ist es mit einer teuren Männermodenkultur, die auf feine Anzüge, kostbaren Zwirn und Stecktuch setzt. Ein paar alte Herren sitzen zwar noch in ihrer Einserpanier vor der Haustüre. Sie sind jedoch längst Überbleibsel aus der Vergangenheit.
Diese bittere Erfahrung macht auch der Herrenschneider Nikos Karalis. Er hat das Geschäft seines Vaters übernommen und mit geübter Hand perfekt sitzende Anzüge genäht. Doch das ist lange her. Die alten Auftraggeber sind gestorben, neue bleiben aus.
Konkurs
Als der Konkurs droht, sinnt Nikos auf ein neues Geschäftsmodell. Er zimmert sich einen Handkarren zusammen und stellt sich mit seinen Stoffballen auf dem Marktplatz auf. Dort verscheucht er potenzielle Kunden mit seiner Fachsimpelei über australische Schafe und deren weichen Halsflaum.
Die Männer zucken bei den Preisen zusammen. Und die Frauen fragen, ob er ihnen anstelle der Maßanzüge nicht auch Hochzeitskleider schneidern könnte?
Für Nikos ist die Zukunft eindeutig weiblich. Anstelle alter Männer bilden nun (junge) Frauen den Kundenstock. Der Schneider tut sich mit seiner schwermütigen Nachbarin Olga zusammen und beginnt, Hochzeitskleider für 200 Euro und ein paar frische Fische zu verkaufen. Um ein Hochzeitskleid zu verschönern, zerschnippelt er flugs eine Tischdecke und drapiert die Spitze um den Hals der Kundin. Die Damen sind begeistert.
Hauptdarsteller Dimitris Imellos hat das Gesicht eines Stummfilmkomikers. Er spielt seinen melancholischen Herrenausstatter als griechische Version von Buster Keaton. Mit traurigen Augen betrachtet er ungläubig seine Umgebung und sieht in einer Abfolge von Großaufnahmen, die Kenterman als Stilmittel großzügig einsetzt, Dinge, die andere nicht sehen: einen Faden, zum Beispiel, der beim Ärmel eines Bankbeamten wegsteht.
Und wo geschneidert wird, darf die Liebe nicht fehlen. Die aufkeimende Beziehung zur Nachbarin flankiert die Regisseurin mit zärtlichen Kamerafahrten über Oberflächen von Stoffen, Stränden und dem Meer. Mit fachkundiger Hand greift Nikos der Geliebten an den Busen – und zupft ihr einen abstehenden Faden weg.
INFO: GRC/D 2020. 100 Min. Von Sonia Liza Kenterman. Mit Dimitris Imellos, Tamila Koulieva-Karantinaki.
Filmkritik zu "The Sunlit Night": Wo die Sonne niemals untergeht
„Feuchtgebiete“-Erfolgsregisseur David Wnendt versammelt für seine leichtfüßig-verspielte Verfilmung des Romans von Rebecca Dinerstein Knights internationale Stars, darunter die Golden-Globe-Preisträgerin Gillian Anderson („The Crown“).
Es beginnt mit einer expliziten Sexszene. Zwischen Frances, einer jungen Künstlerin, und ihrem Verlobten. Sie ahnt dabei noch nicht, dass er schon eine neue Frau hat. Noch nicht im Bett, aber in petto. Eine zweite Sexszene gibt es dann gegen Ende des Films. Dazwischen spielt sich das ab, worum es im Film eigentlich geht: Um die Selbst(er)findung einer Frau.
Nachdem nicht nur der Mann, sondern auch ein großer Kunstauftrag flöten gegangen sind, nimmt Frances ein Kunststipendium in Norwegen an. Auf den abgelegenen, kargen Lofoten, wo zumindest die äußere Sonne nie untergeht. Vor dem gut in Szene gesetzten, mystischen Panorama kommt es zu neuen Begegnungen.
Grantig
Zuerst einmal mit dem grantigen älteren Künstlerkollegen Nils, der Frances’ Kunstprojekt überwachen soll. Er entspricht ein bisschen zu sehr dem Klischee des wortkargen, dem Alkohol zugewandten Skandinaviers, wird aber überzeugend und charismatisch gespielt.
Schade, dass der Crash zwischen modernem Lebensstil und der Lebensweisheit nordischer Ahnen und Asen nur als Legitimierung für die Liebesgeschichte dient, die trotz des Lichts der Mitternachtssonne ein wenig fahl und fad daherkommt. Das Vorbild Woody Allen lässt sich in den schrulligen Figuren nicht übersehen. Doch der Film erinnert eher an die Alterswerke Allens, als an dessen frühe Meisterwerke.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: D/NOR 2019. 106 Min. Von David Wnendt. Mit Jenny Slate, Alex Sharp, Fridtjov Såheim.
Filmkritik zu "Madison – Bikes, Boys & Berge": Biken und Girlpower
Gewinnen ist nicht alles – diese harte Lektion muss eine zwölfjährige Radsportlerin namens Madison lernen, die verbissen an ihrer Karriere als Profi-Sportlerin feilt. Angetrieben von ihrem ehrgeizigen Vater, missgönnt sie sich jedes Freizeitvergnügen.
Dass dies nicht die Botschaft ist, die die österreichische Regisseurin Kim Strobl ihren jungen Zuseherinnen mitgeben möchte, ist klar: Bei einem Aufenthalt in den Tiroler Bergen freundet sich Madison mit der heimischen Jugend und dem Downhill-Biken an und verwandelt sich von der Spaßbremse zur normalen Teenagerin. Nicht frei von Klischees, aber temperamtenvoll inszenierter und mit einer klaren „Mädchen sind genauso gute Sportler wie Buben“-Message ausgestatteter Jugendsportfilm.
INFO:D/Ö 2020. 87 Min. Von Kim Strobl. Mit Felice Ahrens, Florian Lukas.
Filmkritik zu "Ein Clown - Ein Leben": Mit dem Selbstbewusstsein einer Feldmaus
Jedes Kind kennt heute den Zirkus Roncalli. Insofern ist es besonders witzig, wenn sich in einer Fernsehaufzeichnung des Club 2 aus dem Jahr 1976 eine pikierte Dame über die Unverschämtheit aufpudelt, „von heute auf morgen Zirkus machen zu wollen“. Es ist Frau Althoff-Jacobi, Leiterin des österreichischen Nationalzirkus, die dem (damaligen) Newcomer Bernhard Paul ans Bein pinkelt.
Bernhard Paul hasste Zirkusnummern, in denen Kamele mit hängender Zunge im Kreis rennen und die Kostüme nach billigem Plastik stinken. Er träumte von einem Zirkus der Poesie, liebte das traditionelle Clown-Trio und wurde als Clown Zippo berühmt´.
In der liebevollen Doku von Harald Aue lässt Bernhard Paul seine Familiengeschichte („Ich hatte das Selbstbewusstsein einer Feldmaus“) und seinen Werdegang rekapitulieren: An der „Graphischen“ in Wien ging er mit Gottfried Helnwein und Manfred Deix in eine „Schule des Humors“. Aue verwebt kongenial intime Interviewpassagen mit schönen Archivaufnahmen und entwirft ein charismatisches Stück Nachkriegs- und Clowngeschichte, umflort mit melancholischen Liedern von Ernst Molden und dem Nino aus Wien.
INFO: Ö 2021. 105 Min. Von Harald Aue. Mit Bernhard Paul, Fulgenci Mestres.
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