Dass die Erwartungslatte für ihn besonders hoch liegt, hat sich Giorgos Lanthimos selbst zuzuschreiben. Spätestens mit seiner Satire „The Lobster“ konnte er sein Publikum in Bann schlagen, die Palastintrige „The Favourite“ katapultierte in auf die Liste der Oscarnominierungen. Mit „Poor Things“ – einer Adaption des Romans von Alasdair Gray – taucht Lanthimos erneut in das viktorianische Zeitalter ein und liefert mit einem schrägen Blick durch die Fischaugenlinse ein surreales Sittenbild.
Emma Stone – seit ihrem niedlichen Auftritt in „La La Land“ Oscarpreisträgerin – zieht als Schauspielerin in „Poor Things“ völlig neue Register. Furchtlos stürzt sie sich in die Rolle der Bella Baxter, eine Art weiblicher Version von Frankensteins "Monster", programmiert von einem sinistren Doktor. Bella hat den Körper einer erwachsenen Frau, in deren Kopf das Gehirn eines Säuglings steckt. Doch sie lernt schnell. Ihre ersten unsicheren Schritte wandeln sich zügig zu einem entschlossenen Gang durch die Welt. Bella kennt vor allem eines nicht: Scham. Ihre Lust auf Sex ist ungezügelt und reißt nicht nur ihren abgefeimten Verehrer – zerzaust gespielt von Mark Ruffalo – vom Sockel. Ihr Coming-of-Age-Prozess wird zum kühnen Befreiungsritt durch die Landschaft männlicher Bevormundung und endet im entspannten Matriarchat.
#MeToo, Anti-#MeToo
Nachdem Emma Stone aufgrund des Streiks in Hollywood nicht persönlich in Venedig erscheinen konnte, musste Lanthimos alle Fragen – auch die nach den zahlreichen Sexszenen – selbst beantworten. Das sei alles kein Problem gewesen, nicht zuletzt wegen der Anwesenheit einer Intimitätskoordinatorin, beteuert der Regisseur; sie hätte die Arbeit unglaublich erleichtert: „Anfänglich fühlten sich viele Regisseure vom Beruf der Intimitätskoordinatorin in ihrer Freiheit bedroht“, gibt Lanthimos zu: „Aber dann merkt man erst, wie wichtig ihre Arbeit ist. Sie macht alles viel einfacher.“
Wenn man Lanthimos zuhört, spürt man den frischen Wind, der im Zuge der #MeToo-Debatte entfacht wurde und unter anderem Bedingungen für sicheres Arbeiten am Filmset mitbrachte.
Gar nicht nach #MeToo fühlt sich das Beharren von Festivalchef Alberto Barbera an, Filmen älterer Männer, denen schwere sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, eine Bühne zu bieten. Roman Polanski, zum Beispiel.
Wenn man, wie Barbera, darauf besteht, zwischen dem Mann – Polanski ist wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilt – und seinem Werk zu unterscheiden, wäre es ein Leichtes gewesen, aufgrund von Qualitätskriterien auf Polanskis „The Palace“ zu verzichten: In der missglückten Farce treffen sich Superreiche in einem Schweizer Hotel und feiern die letzte Jahrtausendwende. Atemlos muss der gestresste Hotelmanager (Oliver Masucci) die absurdesten Wünsche idiotischer Schnösel erfüllen. Deformierte Gesichter schönheitsoperierter Frauen, aufgedunsene alte Männer – darunter Mickey Rourke – , saufende Russen und speibende Ehegattinnen ergeben ein unlustiges Kabinett des Horrors.
Aber Polanski ist kein Ruben Östlund: Wo der Schwede in „Triangle of Sadness“ mit satirischer Schärfe gesellschaftspolitische Schwachstellen freilegt, staucht Polanski lediglich krude Klischees zusammen. Sollte er mit „The Palace“ dem Publikum den Finger zeigen wollen, wie manche Zuschauer vermuteten, ist ihm das gelungen.
Zerrissenes Liebesleben
Kunst gibt keine Antworten, sondern provoziert Fragen, sagte Leonard Bernstein.
Schauspieler und Regisseur Bradley Cooper stellte Bernsteins Motto gleich an den Beginn seines Bio-Pics „Maestro“. Cooper selbst übernahm die Rolle des Dirigenten und Komponisten von Musicals wie „West Side Story“. Schlaglichtartig filtert er Bernsteins Karriere durch dessen Liebesleben, zerrissen zwischen seiner Familie und seiner Homosexualität. Bernsteins Ehefrau, gespielt von der exzellenten Carey Mulligan, kommt bei seiner Selbstfindung eine besondere Rolle zu. Ihr schenkt Bradley Cooper, der als Bernstein triumphiert, das letzte Bild seines charismatischen Films.
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