Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, heißt es bekanntlich, und dieses Exempel wird von Marhoul gnadenlos durchexerziert: Der Bub trifft auf brutale Prügler, subtile Sadisten, (weibliche) Vergewaltiger, Tierquäler, Pädophile, Nazis und mordende Kosaken. In brillanter Schwarz-Weiß-Optik entwirft Marhoul geradezu genüsslich ein Pandemonium an menschlicher Perversion. Die Grausamkeiten des Holocausts, sie fanden eindeutig nicht nur hinter den Stachelzäunen der Konzentrationslager statt. Vielmehr verwandelte tobender Antisemismus jeden einzelnen Dorfdeppen in einen potenziellen Totschläger.
Diese zweifellos richtige Botschaft erzählt Marhoul in aller Deutlichkeit, jedoch mit fraglichen ästhetischen Mitteln. Handwerklich exquisit, entwirft er seine grimmigen Ereignisse mit Hang zur horriblen Pointe. Und zwar eine Szene nach der anderen. Es dauert nicht lange, da hat man den Trick heraußen: Ein Schacht, gefüllt mit quietschenden Ratten? Ganz sicher wird dort jemand hinein stürzen. Ein netter Mann in der Kirche, der den Buben bei sich aufnehmen will? Natürlich ein Pädophiler.
Marhoul spielt mit unseren Erwartungen des Schreckens, triggert mit visueller Virtuosität und triumphiert mit teilnahmsloser Überheblichkeit. Das macht ihn zum fiesen Erzähler.
Eine komplett konträre Erzählhaltung nimmt der eigenwillige Schwede Roy Andersson ein. Obwohl sein Film „About Endlessness“ („Über die Endlosigkeit“) titelt, teilt er sein melancholisch-komisches Weltbild in nur 76 knackigen Minuten mit uns. Der 76-jährige Andersson hat nur fünf Langfilme gemacht und gewann zuletzt mit „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ (2014) den Goldenen Löwen in Venedig.
Auch sein sechster Film, „About Endlessness“ ist insofern ein typischer Andersson, als er in langen, starren Einstellungen perfekt stilisierte, tragikomische Szenarien entwirft. Die Menschen sehen alle aus, als hätten sie sich gerade in Mehl gewälzt: Mit bleichen Gesichtern sitzen sie beim Psychiater, weinen in der Straßenbahn oder jammern laut beim Zahnarzt. Wie eine depressiv-skurrile Postkartensammlung breitet Andersson liebevoll seine Lebensansichten vor uns aus.
„Ich sehe einen Mann, der seinen Glauben verloren hat“, sagt eine Stimme aus dem Off. Dieser Mann, ein Pfarrer, glaubt nicht mehr an Gott und träumt jede Nacht, dass er ans Kreuz geschlagen wird. Um seinen Job weiter ertragen zu können, kippt es sich während der Wandlung schnell den Messwein hinter die Binde. Sein Psychiater hat leider auch keine Zeit, weil er den Bus erwischen muss.
Banalität und Tragödie, Schönheit und Grausamkeit, Trauer und Gelächter: In Anderssons verlangsamtem Traumtanz durch die menschliche Existenz finden alle Gefühle ihren Platz. Er inszeniert sie wie Sketches am Theater, aber mit der formstrengen, augenschönen Raffinesse des Cinephilen.
Apropos Cinephilie: Es gab eine Zeit, da stand ein Regisseur wie Atom Egoyan hoch im Kurs der cinephilen Fangemeinde. Mit charismatischen Werken wie „Exotica“ oder „The Sweet Hereafter“ war der kanadische Filmemacher ein Fixstern der 90er-Jahre, ehe er zu sinken begann. Mit seinem neuen Psychodrama „Guest of Honour“ versucht Egoyan ein Comeback in die eigene Vergangenheit und lieferte ein stark konstruiertes Vater-Tochter-Drama mit solidem Unterhaltungswert.
Die Erzählmomente rund um einen Gesundheitsinspektor, der Restaurantküchen auf ihre Hygienestandards überprüft („Händewaschen nicht vergessen“) und das dunkle Geheimnis seiner Tochter lüftet, erinnern wie ein „Best of Egoyan“ an dessen frühes, oft von familiären Verstrickungen geprägtes Kino. Beim Zusehen fühlt sich das ein bisschen so an, als würde man nach Jahren eine ehemalige Lieblingsband wieder auftreten sehen: Man weiß, warum man sie einmal richtig gut fand, aber Begeisterung stellt sich keine mehr ein.
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