Vierzig Jahre später stellte die französische Regisseurin Lubna Playoust die gleiche Frage einer neuen Generation von Filmschaffenden: In ihrem Doku-Debüt „Room 999“ versammelte sie während des Filmfestivals in Cannes von 2022 erneut eine Reihe von Regisseuren – und entscheidend mehr – Regisseurinnen in einem Hotelzimmer und stellte die Frage erneut. Wim Wenders ist gleich der Erste, der in einer düsteren Rede die Gefahr der digitalen Revolution heraufbeschwört und um das Schicksal des (verschwindenden) Kinos zittert. Andere sind weniger pessimistisch: David Cronenberg – im Alter von damals 79 Jahren der älteste Interviewpartner – blickt mit großer Zuversicht in die Zukunft. Die französische Filmemacherin Audrey Diwan („Das Ereignis“) beobachtet die kurze Aufmerksamkeitsspanne ihrer Kinder und fragt sich, ob traditionelles Kino überhaupt noch dem Rhythmus der jungen Generation entspricht? Ruben Östlund schließlich – zweifacher Palmengewinner („The Square“ und „Triangle of Sadness“) und Präsident der heurigen Preisjury – bedauert den Einheitsbrei, den die globalen Streamingkonzerne per Algorithmus ihren Konsumierenden vorsetzt.
Bedrohung
Die Macht der Streamingdienste (und ihre Bedrohung für den traditionellen Gang ins Kino) ist in Cannes permanentes Diskussionsthema. Die Apple Studios durften Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ in Cannes mit der Verpflichtung präsentieren, den Film in den Kinos zu verleihen, ehe er auf Apple TV+ landet.
Das Ringen mit der Allmacht der Streamer schlägt sich aber auch in den Filmen nieder. Der italienische Neurosenregisseur Nanni Moretti spielt in seiner Komödie „A Brighter Tomorrow“ einen Filmemacher, dem gerade das Geld für sein neues Projekt ausgeht. Es kommt zu einer recht komischen Begegnung mit Vertretern von Netflix, die ihm Geld anbieten – wenn er so gut wie alles in seinem Film umschreibt. Umwerfende Begründung: „Wir verkaufen den Film in 190 Territorien. 190 Territorien!! 190 Territorien!!!“ Am Ende seines etwas enervierenden (Selbst-)porträts winkt Moretti in die Kamera: Ist es sein Abschied vom Kino? Oder doch nur ein Goodbye bis zum nächsten Mal?
Zurückgekehrt nach längerer Abwesenheit ist jedenfalls der lakonische Kult-Finne Aki Kaurismäki. Schon bei seinem Gang über den roten Teppich erfreute er die Fotografen, indem er ihnen wahlweise die Kameras abnahm oder so nahe an sie heranrückte, dass er mit der Nase quasi die Linse berührte. Seine melancholisch-schweigsame Liebesgeschichte in beredten Primärfarben ruft ein ihm ureigenes Kino auf, wie er es in den 1980er-Jahren begonnen hat. In der tragikomischen Romanze „Fallen Leaves“ telefonieren die Menschen mit Wählscheibe und notieren Handy-Nummern auf Papierzettel (die sie prompt verlieren). Die von Wim Wenders beklagte digitale Revolution hat im Nostalgiekino von Aki Kaurismäki noch nicht Einzug gehalten.
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