Nun ist das Filmfestival dafür bekannt, dass es seinen Regisseuren und Regisseurinnen die Treue hält. Über die Jahre hinweg werden die Karrieren jener Filmemacher begleitet, die hier ihre ersten Premieren feierten. Der italienische Filmemacher Nanni Moretti ist so ein Dauerbrenner in Cannes: Er hatte bereits acht Filme hier laufen, zwei davon gewannen die Goldene Palme: "Liebes Tagebuch ..." (1994), in dem der Regisseur auf der Vespa durch Rom rauscht und seine Beobachtungen notiert, und "Das Zimmer meines Sohnes" (2001), das vom Verlust eines verunglückten Kindes handelt.
Offensichtlich stand nie zur Debatte, ob auch sein neues Werk "Three Floors" seine Premiere im Wettbewerb feiern würde. Das liegt in diesem Fall an der "Treue" von Cannes, nicht aber an dem Niveau eines Filmes, der eindeutig zu den Schwachstellen im Oeuvre des Regisseurs gehört. Überhaupt lässt sich schwer sagen, was Moretti an dem israelischen Bestseller, auf dem sein Soap-Opera artiges Melodrama beruht, interessiert hat.
Was immer es war, es übersetzt sich nicht.
"Three Floors" erzählt vom Schicksal mehrerer Mittelstandsfamilien in einem Mietshaus in Rom, ohne deren lose Verbindung zueinander je produktiv zu machen. Moretti selbst spielt einen soignierten Richter, dessen Sohn gleich zu Beginn im Rausch jemanden niederführt und tötet. Daraufhin bricht die Familie auseinander. Im Stockwerk darunter kämpft eine Frau, deren Ehemann permanent durch Abwesenheit glänzt, mit ihrer Einsamkeit als junge Mutter. Und schließlich wohnt im Haus auch noch eine Familie mit Kind, dessen Vater einen Missbrauchsverdacht hegt.
All diese Episoden verwebt Moretti zu einem löchrigen Erzählteppich mit seltsamer Moral. Die Figuren mäandern abwesend durch ihr Schicksal, als würde es nicht zu ihnen gehören. Die Männer versagen als Väter und Ehepartner, die Frauen versuchen, halbwegs damit klar zu kommen. Am Ende tanzen alle Tango in einem Film, der sich anfühlt , als wäre er komplett aus der Zeit gefallen.
Genau 20 Jahre ist es her, seit Moretti seine letzte Palme gewann. Mit "Three Floors" hat er sich höchstens ein Gänseblümchen verdient.
Ebenfalls keine Unbekannte in Cannes ist die Französin Mia Hansen-Løve, deren neuer, hinreißender Film erstmals im Hauptwettbewerb läuft. "Bergman Island" erzählt von einem Filmemacherpaar, das auf der schwedischen Insel Fårö einen Sommer verbringt, um dort konzentriert zu arbeiten.
Der Mann Tony, lässig gespielt von Tim Roth, ist ein erfolgreicher Regisseur; seine signifikant jüngere Frau Chris – Vicky Krieps, eindeutig als Alter Ego von Hansen-Løve zu erkennen – ist ebenfalls Filmemacherin, aber weniger bekannt als ihr Partner.
Es kommt nicht von ungefähr, dass das Paar Fårö ausgesucht hat: Fårö ist jene Insel, auf der der berühmte schwedische Regisseur Ingmar Bergman über lange Zeit lebte und arbeitete. Seine begeisterten Fans haben die Insel in eine Art Bergman-Themenpark inklusive Bergman-Safari verwandelt. Zudem können Künstler dort Häuser beziehen und sich von der Bergman-Atmosphäre inspirieren lassen.
Auch Tony und Chris sind Bergman-Fans, ganz im Gegenteil zur lokalen Bevölkerung, die bei Nennung seines Namens gerne mit den Augen rollt. Sein berühmtes Drama "Szenen einer Ehe" hätte die Scheidung von Millionen Menschen bewirkt, vermerkt die Haushälterin trocken.
Ein Künstlerpaar beim gemeinsamen Arbeitsurlaub – Mia Hansen-Løve lässt eindeutig ihre Erfahrungen mit dem französischen Filmemacher Olivier Assayas einfließen, mit dem sie 15 Jahre zusammen war und ein gemeinsames Kind hat. Elegant löst sie biografische Momente in einer Film-im-Film-Geschichte auf und erzählt wie nebenher von den Sehnsüchten, Brüchen und Kompromissen einer Zweierbeziehung. Während Tony in seinem Ruhm schwelgt, bleibt Chris’ kreatives Innenleben eine Suchbewegung. Die Idee zu ihrem neuen Film materialisiert sich vor unseren Augen und nimmt leidenschaftliche Gestalt an. Die Schmerzen einer ungelebten Liebe vollziehen sich auf einer Hochzeitsfeier zwischen Saunabesuch und dem ABBA-Song "The Winner Takes it All". Mia Hansen-Løve ist Meisterin einer auf den ersten Blick leichtfüßigen Erzählweise, deren verdeckte Glut überraschend Flammen schlägt.
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