Mit „The Zone of Interest“ schlug der 58-Jährige neues Kapitel auf. Schauplatz ist das Wohnhaus einer deutschen Familie mit fünf Kindern. Drinnen wuseln die Angestellten durch die Gänge, draußen rupft die Frau des Hauses das Unkraut aus ihrem Garten. Was auf den ersten Blick wie das normale Leben einer Großfamilie aussieht, erweist sich als das horrible Idyll von Rudolf Höss und seiner Ehefrau Hedwig.
Höss ist der Lagerkommandant von Auschwitz und Organisator des groß angelegten Massenmordes in den Gaskammern. Sein Haus liegt direkt neben Auschwitz, der Garten grenzt an die Mauern des Vernichtungslagers. Während die Familie gemütlich Kaffee trinkt und die Kinder im Pool planschen, hört man im Hintergrund den konstant dröhnenden Sound der Todesfabrik, Schreie, Schüsse und das Bellen von Hunden.
Todeskulisse
Sandra Hüller („Toni Erdmann“) spielt Hedwig Höss – die „Königin von Auschwitz“, wie sie „liebevoll“ genannt wird – als biedere Hausfrau mit der Energie einer sozialen Aufsteigerin. Dass im Hintergrund der Rauch aus den Krematoriumsschloten ihren Paradiesgarten verdunkelt, übersieht sie geflissentlich, wie auch der Rest der Familie die gruselige Todeskulisse ignoriert.
Wie man ein „normales“ Leben im Schatten von Auschwitz führen kann, erzählt Glazer in leicht überbelichteten, grellen Bildern, deren gleichgültige Kälte einem die Gänsehaut aufstellt. Gemeinsam mit der unterschwellig-schaurigen Musik von Mica Levi komponiert er eine irritierend faszinierende Studie dessen, was Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ genannt hat. Ein klarer Anwärter auf die Goldene Palme.
Frustrierter Dorflehrer
Einen weiteren Höhepunkt im Wettbewerb lieferte Nuri Bilge Ceylan: Mit seinem unglaublich gesprächigen Provinzepos „About Dry Grasses“ hat sich der türkische Palmengewinner („Winterschlaf“) selbst übertroffen. Vor blendend weißer Schneelandschaft lässt er das extrem formschöne Porträt eines frustrierten, weitgehend unsympathischen Dorflehrers heraustreten.
Der Mittdreißiger Samet unterrichtet Kunst im östlichen Anatolien. Er fühlt sich zu etwas Besserem berufen, als den „Kindern von Kartoffelbauern“ das Malen bei zu bringen. Seine selbstherrliche Arroganz und sein Hang, Lieblingsschülerinnen zu bevorzugen, tragen ihm den Vorwurf von Belästigung ein. Aufgestachelt durch diese „Ungerechtigkeit“ beginnt er, sich in selbstmitleidige, oft grausame Bitterkeit hineinzusteigern. Über drei Stunden lotet Ceylan die Differenz zwischen persönlicher Glückssuche und kollektiver Verantwortung aus. Zeit genug für die Entwicklung einer Strahlkraft, die noch lange nachwirkt.
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