Filmfestival Cannes: Nazi-Familienidylle im Schatten von Auschwitz

Fröhliches Baden am Fluss vor schauriger Todeskulisse: „The Zone of Interest“
Endlich weiß man wieder, warum man eigentlich in Cannes ist: Um weltbestes Kino zu sehen. Bislang spielten sich die Höhepunkte eher auf dem roten Teppich ab (Harrison Ford! Cate Blanchett!), doch zum Wochenende hinlegte der Wettbewerb des (verregneten) Filmfestivals einen Zahn zu. Eine cinephile Sensation lieferte der britische Regisseur Jonathan Glazer mit „The Zone of Interest“, einer unterkühlten, losen Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Amis.
Jonathan Glazer gehört zu jenen Regisseuren, die sich mit jedem Film selbst überraschen. Seine Karriere begann er mit Musikvideos; dann unterhielt er sein Publikum mit der Gangsterkomödie „Sexy Beast“, ließ Nicole Kidman in „Birth“ an die Wiedergeburt ihres toten Ehemanns glauben und schickte Scarlett Johansson als Alien durch seine Sci-Fi-Dystopie „Under the Skin“.
Mit „The Zone of Interest“ schlug der 58-Jährige neues Kapitel auf. Schauplatz ist das Wohnhaus einer deutschen Familie mit fünf Kindern. Drinnen wuseln die Angestellten durch die Gänge, draußen rupft die Frau des Hauses das Unkraut aus ihrem Garten. Was auf den ersten Blick wie das normale Leben einer Großfamilie aussieht, erweist sich als das horrible Idyll von Rudolf Höss und seiner Ehefrau Hedwig.
Höss ist der Lagerkommandant von Auschwitz und Organisator des groß angelegten Massenmordes in den Gaskammern. Sein Haus liegt direkt neben Auschwitz, der Garten grenzt an die Mauern des Vernichtungslagers. Während die Familie gemütlich Kaffee trinkt und die Kinder im Pool planschen, hört man im Hintergrund den konstant dröhnenden Sound der Todesfabrik, Schreie, Schüsse und das Bellen von Hunden.
Todeskulisse
Sandra Hüller („Toni Erdmann“) spielt Hedwig Höss – die „Königin von Auschwitz“, wie sie „liebevoll“ genannt wird – als biedere Hausfrau mit der Energie einer sozialen Aufsteigerin. Dass im Hintergrund der Rauch aus den Krematoriumsschloten ihren Paradiesgarten verdunkelt, übersieht sie geflissentlich, wie auch der Rest der Familie die gruselige Todeskulisse ignoriert.
Wie man ein „normales“ Leben im Schatten von Auschwitz führen kann, erzählt Glazer in leicht überbelichteten, grellen Bildern, deren gleichgültige Kälte einem die Gänsehaut aufstellt. Gemeinsam mit der unterschwellig-schaurigen Musik von Mica Levi komponiert er eine irritierend faszinierende Studie dessen, was Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ genannt hat. Ein klarer Anwärter auf die Goldene Palme.

Nuri Bilge Ceylans herausragendes Provinzporträt "About Dry Grasses“
Frustrierter Dorflehrer
Einen weiteren Höhepunkt im Wettbewerb lieferte Nuri Bilge Ceylan: Mit seinem unglaublich gesprächigen Provinzepos „About Dry Grasses“ hat sich der türkische Palmengewinner („Winterschlaf“) selbst übertroffen. Vor blendend weißer Schneelandschaft lässt er das extrem formschöne Porträt eines frustrierten, weitgehend unsympathischen Dorflehrers heraustreten.
Der Mittdreißiger Samet unterrichtet Kunst im östlichen Anatolien. Er fühlt sich zu etwas Besserem berufen, als den „Kindern von Kartoffelbauern“ das Malen bei zu bringen. Seine selbstherrliche Arroganz und sein Hang, Lieblingsschülerinnen zu bevorzugen, tragen ihm den Vorwurf von Belästigung ein. Aufgestachelt durch diese „Ungerechtigkeit“ beginnt er, sich in selbstmitleidige, oft grausame Bitterkeit hineinzusteigern. Über drei Stunden lotet Ceylan die Differenz zwischen persönlicher Glückssuche und kollektiver Verantwortung aus. Zeit genug für die Entwicklung einer Strahlkraft, die noch lange nachwirkt.
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