Die Regisseurin versuchte zweifellos das Beste, und trotzdem gelang ihr zum Auftakt der Festspiele Reichenau nicht viel mehr als eine holzschnittartige Umsetzung. Oder eine Graphic Novel in Grauschattierungen. Diese Interpretation legt jedenfalls Ausstatterin Johanna Lakner nahe: Sie arbeitete – wie bei einem Comic – mit weißen oder schwarzen Strichen die Umrisslinien der Requisiten und der Kostüme (samt den Applikationen) heraus. Zudem nimmt sie einigen Gegenständen die Körperlichkeit. Denn diese sind bloß aus Draht gebogen, darunter die Kleidungsstücke an der Wäscheleine. Das Spiel mit Zweidimensionalität und gleichzeitig Plastizität hat durchaus Reiz. Zumal der Neue Spielraum mit seiner arenaartigen Tribünenanordnung nicht mehr erlaubt.
Und doch ist die Umsetzung hoch problematisch. Denn Joseph Roth beschreibt seinen einfachen, leidgeprüften und bitterarmen Mendel Singer so: „Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halb verhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen, landesüblichen jüdischen Kaftan …“
Der Mendel Singer des schlohweißen Joseph Lorenz hingegen steckt in einem recht noblen Gehrock. Er ist eher eine weltläufige Schnitzler-Figur denn ein orthodoxer Toralehrer in der russischen Provinz, soll daher wohl besser als Identifikationsfigur geeignet sein: Man vermag mit ihm mitzuleiden. Und er leidet mit Stil. Das Publikum feierte ihn frenetisch.
Dieser Mendel Singer übergibt Menuchim, sein schwer krankes Kind, nicht dem Arzt, der Heilung in Aussicht gestellt hat: „Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch essen und Hühner auf Butter gebraten, wie man sie im Spital bekommt?“ Damit nimmt die tragische Geschichte, die in der Emigration in New York endet, ihren Lauf.
Ohne Kommentar
Liedtke scheut die Interpretation im Spiegel gegenwärtiger Entwicklungen, sie verweigert jeden Kommentar zu Russland, zu den USA, zu den ultrakonservativen Kräften in Israel. Und sie achtet penibel darauf, nicht in eine folkloristische Anatevka-Falle zu tappen, wenngleich Aliosha Biz während der zweieinhalbstündigen Aufführung die gesprochenen Worte mit der Geige untermalt, mitunter störend übertönt.
An sich gibt es keine längeren Dialogpassagen (wie etwa bei Dostojewski): Der Roman lebt von Joseph Roths archaischer wie eindringlicher Sprache – und von den Beschreibungen. Alexandra Liedtke lässt daher die Figuren all das sprechen, was sie denken und tun. Aber eigenartigerweise tun die Schauspieler nicht, was sie sprechen. Julia Stemberger zum Beispiel, die energische Mutter Deborah, rauft sich ob einer bitteren Nachricht nicht die Haare und sie reißt sich diese auch nicht aus, sie sinkt einfach nieder, um tot zu sein.
Noch sonderbarer ist der Umgang mit Menuchim, der massive Entwicklungsstörungen hat: Liedtke ersetzt diesen Menschen durch einen Wollpullover, also ein Ding. Der Rabbi prophezeit, dass die Hässlichkeit ihn gütig und die Krankheit stark machen werde. Gegen Ende hin stirbt der von Gregor Schulz mit viel jugendlicher Frische gespielte Bruder Schemarjah – und steht als geheilter Menuchim (oder Messias?) wieder auf. Welch Wunder!
Katharina Lorenz ergänzt als entrückte Mirjam, Alex Kapl gibt unter anderem einen Abziehbild-Ami (Kaugummi kauend). Liedtke übernahm bei der Premiere die Nebenrollen von Wolfgang Hübsch, der sich bei der Generalprobe verletzt hat und operiert werden muss: Für ihn springt ab nun Günter Franzmeier ein.
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