Langzeitbelichtung
Dass dem gebürtigen Vorarlberger das „so nebenbei“ gelungen sei, ist zugleich richtig und falsch: Dreissingers fotografische Praxis ist ein Langzeitprojekt, das nur durch gewachsene Kontakte funktionieren konnte und das nie das ikonische Bild als vordergründiges Ziel verfolgte. „Es geht darum, die Künstler kennenzulernen und die kreative Energie zu spüren, die sie verbreiten“, sagt Dreissinger. „Es muss immer eine Beziehung da sein. Wenn ich mit deren Kunst nichts anzufangen weiß, fotografiere ich nicht. Fotoaufträge zum Beispiel sind für mich ganz schrecklich, außer es ist jemand, den ich ohnehin schon lange treffen wollte.“
Dass er sich alles selbst organisiert habe, sei eine Grundkonstante seiner Karriere gewesen, erzählt der Fotograf, der seinen Lebensunterhalt die längste Zeit als Musiklehrer an diversen Schulen bestritt: „Ich habe keine Agentur gehabt, keinen Manager, keine Zeitung.“ Auch das vorliegende Fotobuch, das er gemeinsam mit seiner Partnerin Heike Schäfer konzipierte, produzierte und teils selbst finanzierte, sei so eine Eigeninitiative gewesen.
Es gab allerdings viele Türöffner: Etwa den Pianisten Friedrich Gulda, mit dem Dreissinger nach seinem Studium am Mozarteum auch musizierte, und Literaten, die ab 1978 bei Lesungen auftraten, die der Umtriebige im Café Mozart in Salzburg organisierte. „Mit der Idee, die Fotos für die Plakate selbst zu machen, begann meine Karriere als Porträtfotograf“, sagt er. Ein Bild, in dem Artmann im Bett liegend mit einem Regenschirm das Gemälde des „Armen Poeten“ von Carl Spitzweg nachstellt, war eines der ersten Bilder, die Kultstatus erlangten.
Und dann war da natürlich Thomas Bernhard, den Dreissinger erstmals 1977 auf seinem Hof in Ohlsdorf/OÖ aufsuchte und danach immer wieder fotografierte. 1988 gelang jenes Foto, das Bernhard, die Hand in der Hosentasche, im Wiener Café Bräunerhof zeigt, und ein weiteres, für das er sich auf seine „Lieblingsbank“ am Graben setzte. Zufällig sprangen dann noch drei spitzbübisch lachende Burschen ins Bild. Die Bilder sind im kollektiven Gedächtnis abgespeichert.
„Die Leute glauben mittlerweile, dass ich zum Ruf von Thomas Bernhard beigetragen hätte, was ja total absurd ist“, sagt Dreissinger. „Da muss ich mich dagegen sträuben. Ich bin froh, dass ich den Bernhard kennenlernen durfte und dass die Beziehung über Jahre gut funktioniert hat.“
Segen und Fluch
Wie ein Popstar, der noch nach Jahrzehnten gebeten wird, wieder seine größten Hits zu spielen, lässt Dreissinger aber durchblicken, dass das Eigenleben der Bernhard-Bilder für ihn ambivalente Folgen hatte.
Im Positiven öffneten die Fotos, die die Essenz eines Geistesmenschen so prägnant zu übersetzen vermochten, die Türen zu Personen, die der Fotografie sonst misstrauisch gegenüberstanden, als fotoscheu oder überhaupt als „schwierig“ verrufen waren – etwa dem Dichter Wolf Wondratschek oder der Malerin Maria Lassnig. Zu Letzterer entwickelte sich ab 1990 eine Freundschaft, die bis zum Tod der Künstlerin 2014 hielt, ein Buch mit Bildern und Interviews sowie ein Film legen Zeugnis davon ab.
Auch wenn Dreissinger insistiert, dass seine Sujets für ihn nicht posieren – die Erwartung, ein fotografisches Denkmal gesetzt zu bekommen, scheint in manchen Bildern mitzuschwingen. Etwa beim 2023 verstorbenen Literaten Martin Walser, der den Fotografen mit einem „Endlich lerne ich Sie kennen!“ begrüßte, als er ihn 2001 am Bodensee aufsuchte. Oder beim Regisseur Werner Herzog, den Dreissinger erst 2022 ablichtete.
Teilnehmender Beobachter
Dass viele dieser Bilder – und dazu etliche famose Porträts weniger bekannter Personen – im Bernhard-Schatten verbleiben, wurmt den Mann, den die Süddeutsche Zeitung jüngst den „Beethoven der Porträtfotografie“ nannte, dann aber auch. Zumal er in Wien, jener Stadt, deren Geistesleben er in derart umfassender Form festgehalten hat, bisher keine umfassende Ausstellung realisieren konnte. Bei Institutionen habe er „kein Leiberl“, sagt Dreissinger.
Natürlich könnte man vieles an der Praxis des Fotografen heute als anachronistisch bezeichnen – Digitalfotografie und Mobiltelefonie haben erst vor relativ kurzer Zeit Einzug in sein Leben gehalten, seine Negative („mindestens 150 Filme pro Jahr, seit 1975 – das können Sie sich ausrechnen“) arbeitete er stets selbst in der Dunkelkammer aus. Die Beharrlichkeit und Langsamkeit aber scheint so stark mit den Menschen verwoben, die die Bilder zeigen, und mit dem Denken, das Literatur und Kunst hervorbringt. Und so hat es schon seine Logik, wenn Dreissinger sagt, er sei den Menschen „auf Augenhöhe“ begegnet.
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