Die Gewalt ist nicht mehr zu stoppen

Zwei Personen in Kostümen umarmen sich vor einem Lagerfeuer in einer Wüstenlandschaft.
Martin Kušej inszenierte Mozarts "Entführung aus dem Serail" beim Festival in Aix-en-Provence mit Tobias Moretti als Selim Bassa.

Wie würde Mozart heute auf den Konflikt zwischen dem Westen und islamistischen Gruppierungen reagieren?", fragte Bernard Foccroulle, Intendant des Festivals von Aix-en-Provence, in einer Ansprache vor Beginn der "Entführung aus dem Serail". Wie wahrscheinlich ist heute noch eine Versöhnung, wie sie Selim Bassa bei Mozart initiiert? Regisseur Martin Kušej hat eine klare Antwort darauf: Sie ist ausgeschlossen.

Gewalt ist außer Kontrolle geraten, auch die religiösen Führer sind machtlos angesichts des allzu lang gesäten Hasses. Für Ideologien und Utopien gibt es keinen Platz mehr. Das ist die traurige Diagnose von Kušejs erster Inszenierung beim renommierten Festival, das regelmäßig mit innovativen Mozart-Interpretationen besticht.

Eine Szene aus einer Theateraufführung mit fünf Darstellern auf einer Sandbühne.
L'ENLEVEMENT AU SERAIL de Wolfgang Amadeus Mozart, Direction musicale Jeremie Rhorer, mise en scene Martin Kusej, Decors Annette Murschetz, Costumes Heide Kastler, Lumiere Reinhard Traub, Dramaturgie Albert Ostermaier, Orchestre Freiburger Barockorchester, ChÏur de l'Opera de Perm, Chef de chÏur Vitaly Polonsky, repetition au Theatre de l'Archeveche dans le cadre du Festival d'Aix en Provence le 4 juin 2015. Avec : Tobias Moretti (Selim Bassa), Jane Archibald (Konstanze), Rachele Gilmore (Blonde), Daniel Behle (Belmonte), David Portillo (Pedrillo) (photo by Pascal Victor/ArtComArt)

Kusej siedelt seine " Entführung" offiziell in den 1920er-Jahren an, die als Ursprung des Nah-Ost-Konflikts gelten. Die Krieger des Osmin sehen aber aus wie Taliban von heute. Schon bei der ersten Belmonte-Arie stürmt ein Erschießungskommando mit Maschinengewehren aus dem Wüstenzelt. Danach werden Filme gedreht in der Optik jener Videos, in denen der IS mit Enthauptungen droht.

Der Bassa Selim, phänomenal dargestellt von Tobias Moretti, erscheint anfangs in westlicher Kleidung und setzt auch auf kapitalistische Werte, um Konstanze zu verführen. Zu ihrer "Martern"-Arie geißelt er sich selbst – ein Bild von größter Intensität.

Pedrillo wird bei lebendigem Leib im Wüstensand vergraben. "Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt…" – diese Worte des Osmin werden hier ernst genommen. Albert Ostermaier hat (mit Kušej) neue, sehr kluge Zwischentexte geschrieben.

Es ist kühn und auch wichtig, dass Kušej dieses Thema in einem Land aufgreift, das vom Terror zuletzt arg getroffen wurde. Und man rätselt die ganze Zeit, wie er wohl die Wendung mit dem Toleranzaufruf gestalten werde. Er macht es konsequent wie in den meisten seiner Inszenierungen: Er zeigt menschliche Kälte in aller Härte.

Moretti zerhackt Wassermelonen, als wären es Schädel, um sie zur Versöhnung zu verteilen. Ein Moment der Hoffnung. Bis Osmin im Schlussbild die blutigen Kleider der letztlich doch ermordeten Europäer hereinbringt. Moretti, der alle Facetten fabelhaft auslotet, verfällt. Die Macht ist ihm entglitten.

Eingriffe nach Terror

Zwei Bilder mussten überhaupt gestrichen werden, sagte der Festspielchef. Kušej hatte Fahnen mit arabischen Schriftzeichen und am Ende in blutige Fetzen eingewickelte Köpfe zeigen wollen. Er war mit den Eingriffen, motiviert durch die Enthauptung von Lyon, nicht einverstanden. Die Regie ist aber auch so stark genug.

Die Europäer sind übrigens bei Kušej nicht zwingend die Guten. Sie agieren oberflächlich, eifern falschen Werten nach. Er fällt keine banalen Urteile. Mozarts Singspiel war bestimmt noch nie eine solche Tragödie.

Was die musikalische Gestaltung betrifft, kommt das Freiburger Barockorchester nicht an die Leistung bei "Alcina" heran (siehe rechts). Das liegt am großen Open-Air-Theater Archevêché – Dirigent Jérémie Rohrer hat Probleme mit der Akustik. Auch seine Tempi sind nicht überzeugend.

Neben Moretti als Zentrum der Produktion bestechen Franz Josef Selig als markanter, böser, in keiner Sequenz lustiger Osmin, Daniel Behle als Belmonte mit schönem Timbre und feinen Kantilenen sowie David Portillo als Pedrillo mit klarer Höhe und enormer Präzision. Jane Archibald ist eine seriöse Konstanze, mit einigen Schärfen in der Höhe, Rachel Gilmore ein Mini-Blondchen.

Ratlosigkeit und Schockstarre bei einem Großteil des Publikums. Eine Aufführung ohne Theater-Schminke, so brutal wie die Realität.

KURIER-Wertung:

Zur Kritik der Eröffnungspremiere des Festivals von Aix

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