Cannes: Die Welt als Katastrophe

Muss ins Gefängnis: Die tolle Zhao Tao in „Ash Is The Purest White“
Wettbewerb von Cannes: Jean-Luc Godards bitteres Manifest "The Image Book“ und chinesische Liebesschäbigkeit von Jia Zhang-Ke.

Wer ist heuer der größte Star in Cannes?

„Vielleicht Saudi-Arabien“, scherzte das amerikanische Branchenblatt Variety und kommentierte damit den Umstand, dass Saudi-Arabien erstmals in Cannes einen Länderpavillon aufgeschlagen hat und dort seine „Coming-out“-Party als Filmland feiert.

Erst kürzlich wurde in dem ultrakonservativen, reichen Saudi-Arabien ein 35-jähriger Kinobann aufgehoben. Nun will man das Königreich im globalen Filmgeschäft massiv ins Spiel bringen und bewirbt mit teuren, goldbedruckten Einladungen seine diversen Veranstaltungen.

Tatsächlich leben in Saudi-Arabien 33 Millionen Menschen, von denen siebzig Prozent unter 30 Jahre alt, gebildet, mehrsprachig und wohlhabend sind – also einen hervorragenden Absatzmarkt für die (amerikanische) Filmindustrie darstellen. Auch der Mangel an Kinos soll innerhalb kürzester Zeit behoben werden: Bis zum Jahr 2030 werden rund 2000 Leinwände zur Verfügung stehen. Gleichzeitig will sich Saudi-Arabien auch als attraktives Produktionsland präsentieren und internationale Filmproduktionen ins Land locken; geworben wird mit neu eingerichteten Produktionsstudios und steuerlichen Vergünstigungen.

Wie die Rolle der Frauen in der neu etablierten Filmindustrie aussehen soll, bleibt offen, allerdings wird mit Optimismus betont, dass sich die Geschlechterverhältnisse in Saudi-Arabien heftig im Umbruch befinden.

Halbfinale

Während Saudi-Arabien seine Anwesenheit feiert, glänzen die Amerikaner durch Abwesenheit. Der Mangel an US-Produktionen im heurigen Wettbewerbsprogramm wird vielfach mit dem Oscar-Wettrennen erklärt: So fürchten große US-Firmen, dass Filme, die in Cannes im Frühsommer Premiere haben, bis zum Beginn der nächsten Oscar-Saison ihren Glanz verlieren. Immerhin hat ein großer Amerikaner seinen Besuch an der Croisette bereits absolviert: Regisseur Martin Scorsese eröffnete nicht nur das Filmfestival, sondern erhielt auch einen Ehrenpreis.

Was den Wettbewerb um den Hauptpreis, die Goldene Palme, betrifft, so geht das Filmfestival gerade ins Halbfinale. Klare Favoriten zeichnen sich noch keine ab, wiewohl das charismatische Liebesdrama „Cold War“ des polnischen Oscarpreisträgers Pawel Pawlikowski bei der Kritik auf große Gegenliebe stieß.

Ähnlich wie Pawlikowski in „Cold War“, erzählt auch der profilierte chinesische Regisseur Jia Zhang-Ke in seinem melancholischen Wettbewerbsbeitrag „Ash Is Purest White“ eine fatale Liebesgeschichte über mehrere Jahrzehnte hinweg. Der Regisseur gehört zu den hervorragendsten Beobachtern der Umbrüche innerhalb der chinesischen Gesellschaft, und auch in „Ash Is The Purest White“ kämpfen seine Protagonisten mit rapiden Veränderungen. Die wunderbare Schauspielerin Zhao Tao spielt eine junge Frau, die für ihren Geliebten, einen lokalen Mafia-Boss, fünf Jahre ins Gefängnis wandert. Bei ihrer Entlassung muss sie feststellen, dass die Welt nicht mehr dieselbe ist – und die Liebesbeziehung nicht gehalten hat.

Jia Zhang-Ke erzählt die Modernisierung seines Landes als große Ernüchterung und lässt seine Heldin schließlich an der eigenen Liebesschäbigkeit scheitern.

Weniger eingängig erwies sich der neue Filmessay des französischen Großmeisters Jean-Luc Godard, der in einem rappelvollen, knisternden Kinosaal seine Premiere feierte: „The Image Book“ nennt Godard seine bittere Abrechnung mit der Geschichte und ihren immer wiederkehrenden Katastrophen. Seinen fiebrigen Zusammenschnitt aus Bildern, die sich aus (alten) Filmclips ebenso speisen wie aus Gemälden und Kriegsnachrichten, steigert Godard zu einem überbordenden Albtraum über unsere moderne Welt.

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