Die Anti-Influencerin: Künstlerin ORLAN in Wien

"Ich heiße ORLAN, und mein Name schreibt sich in Großbuchstaben."
Wo immer die Künstlerin auftritt, stellt sie sich derart vor - denn, erläutert sie, es sei wichtig, dass Frauen aus dem Schatten treten, laut sprechen, bemerkt werden. Es ist ein Anliegen, dass auch die österreichische Pionierin VALIE EXPORT einst zu Großbuchstaben bewog.
Zu übersehen ist die 1947 geborene Französin, die ihre schwarz-weiß gefärbten Haare nach Jahren des hohen Auftürmens derzeit wieder lang und fallend trägt, aber ohnehin nicht. Wie wenige Protagonistinnen des Kunstbetriebs jedweden Geschlechts hat sich ORLAN selbst zum wandelnden Kunstwerk stilisiert - am radikalsten durch plastisch-chirurgische Eingriffe, die sie in den 1990er Jahren als radikale Performances durchführte. Zwei Implantate oberhalb ihrer Augenbrauen sind die bleibenden Erinnerungen an jene Werkphase.
Material Körper
Doch ORLAN hatte bereits viel früher begonnen, den eigenen Körper als Material einzusetzen, betont Gabriele Schor, Gründerin der für ihren Fokus auf die "Feministische Avantgarde" bekannte Sammlung des Energiekonzerns Verbund. Nachdem die Sammlung im Laufe von 10 Jahren insgesamt 17 Werke ORLANs erstand, richtet sie ihr nun eine Solo-Schau in der "Vertikalen Galerie" (dem Stiegenhaus der Verbund-Zentrale Am Hof 6 in Wien) aus, begleitet von einer umfassenden Publikation, die sechs Jahrzehnte ihres Schaffens erstmals auf Deutsch darlegt. Auch die Ausstellung ist die erste Solo-Schau ORLAN in Österreich, wie Schor betont.
Konsequent bis unters Messer
Tatsächlich wird in den Etagen der Ausstellung sehr rasch klar, wie konsequent sich das Werk der Künstlerin von den Anfängen bis heute entwickelte. Vom Tanz kommend, schuf ORLAN im Alter von 17 Jahren ihre erste fotografische Inszenierung - "ORLAN gebiert ihr geliebtes Selbst" heißt die Arbeit, in der die Künstlerin eine Figur - eine Modepuppe - zu gebären scheint.
Das Selbst ist also Kreation, es ist formbar, veränderbar - und als solches keinen anderen Zwängen als dem Willen der Künstlerin unterworfen. In einem anderen Bild entsteigt die junge ORLAN einem Rahmen - von der Art, wie er in historischen Gebäuden oft als Wandornament zu sehen ist. Nein, Dekoration wollte ORLAN nie sein. Und der "Versuch, dem Rahmen zu entsteigen", betonte die Künstlerin beim Pressetermin in Wien, höre nie auf.

Jenseits der Klischees
Die Kunstgeschichte ist für ORLAN permanenter Reibebaum und gleichzeitig Energiequelle - die Venus von Botticelli, die in wuchtige Falten gehüllte Madonna von Gian Lorenzo Bernini, die "Odaliske" von Jean-Dominique Ingres, zuletzt auch die Frauenbildnisse von Pablo Picasso dienen ihr als Ausgangsmaterial für Variationen, die einerseits die Energie der traditionellen Bildformen nutzen, sie andererseits torpedieren. Denn aus dem Rahmen auszubrechen heißt auch, Zuschreibungen der Frau als "Heilige oder Hure" zu entkommen, dem überlieferten Repertoire der Masken und Codes neue hinzuzufügen; auch in der Peking-Oper wühlt ORLAN dabei nach Material.

Ein Bildpaar stellt dem Gemälde "L'Origine du Monde" von Gustave Courbet ("Der Ursprung der Welt", die Darstellung eines entblößten weiblichen Unterleibs, aus dem Musée d'Orsay in Paris) das Bild eines erigierten Penis in selber Persektive zur Seite. "L'Origine de la guerre", "Der Ursprung des Krieges", lautet der Titel. Es ist eines jener Bilder, die vermutlich auf Instagram zensiert würden.
"Ich bin untröstlich"
Überhaupt: Instagram. Auf die Plattform ist die Künstlerin, die zuletzt alle möglichen technischen Neuerungen von Augmented Reality bis zu Künstlicher Intelligenz in ihre Arbeiten integrierte, schlecht zu sprechen. Ist sie doch jener Ort, an der genau jene Gleichschaltung von Schönheits- und Körperidealen vorexerziert wird, gegen die sie ein Leben lang kämpfte.
"Ich bin untröstlich", sagt ORLAN, vom KURIER darauf angesprochen. "Die Influencerinnen bringen diese Stereotypen zurück, und auch eine bestimmte Art, über Frauen zu sprechen." Neben dem Instagram-Schönheitsideal, das dazu führt, dass sich Frauengesichter in aller Welt asymptotisch an jenes von Kim Kardashian annähern, sind auch neue Bildgeneratoren, die "Avatare" auf Basis von Fotos herstellen, schwer durch einen männlich-sexistischen Blick geprägt, wie der KURIER auch im Selbsttest feststellte.

Als sie selbst beschloss, Eingriffe an ihrem Gesicht durchführen zu lassen, wollte sie die Schönheitschirurgie gewissermaßen zweckentfremden, erzählt ORLAN: Als attraktive Frau fühlte sie sich ständig männlichen Blicken und Anzüglichkeiten ausgesetzt, die Modifikation war dementsprechend ein radikaler "Versuch, den Rahmen zu verlassen" und sollte sie unattraktiv machen.
Allerdings hätten sich Vorstellungen inzwischen geändert, Hässlichkeit würde heute schon wieder ganz anders empfunden. "Die Frage ist: Wer schafft die Männer so, wie sie sind? Wer schafft die Frauen so, dass sie im Schatten bleiben wollen? Wir müssen alle dagegen antreten. Sobald man aufhört, Unkraut zu bekämpfen, fängt es wieder an zu wachsen."
Die Ausstellung "ORLAN - Six Decades" ist bis 30. Juni in der Vertikalen Galerie der Sammlung Verbund, Am Hof 6a, 1010 wien, im Rahmen einer kostenlosen Führung zu besichtigen: Jeden Mittwoch von 18:30-19:30 und jeden Freitag 16:00-17:00. Anmeldung: sammlung@verbund.com oder telefonisch unter +43 (0)50 313-500 44.
Die Publikation "ORLAN - Six Decades" ist im Hatje Cantz Verlag erschienen und kostet im Handel 57 Euro.
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