Debra Granik: „Normale Menschen vom Planeten Erde“

Vater und Tochter leben im Wald: Thomasin McKenzie und Ben Foster
Regisseurin Debra Granik, Entdeckerin von Jennifer Lawrence, erzählt eine Vater-Tochter- Geschichte in den Wäldern von Oregons.

Ein Vater und seiner Tochter leben in den Wäldern von Oregon, abseits der Zivilisation. Doch dann werden sie von den Behörden entdeckt.

Die in New York lebende Filmemacherin Debra , die mit ihrem Drogendrama „Winter’s Bone“ (2010) Jennifer Lawrence entdeckte, drehte erneut eine eindringliche Geschichte an den Rändern der Gesellschaft. Mit „Leave No Trace“ (derzeit im Kino) besuchte Granik unlängst die Viennale.

KURIER: Sie wenden sich in Ihren Filmen Außenseitern zu. Woher kommt dieses Interesse?

Debra Granik: Für mich ist das Filmemachen eine Form der visuellen Anthropologie, bei der man versucht, etwas kennenzulernen, was man noch nicht kennt. Was ich kenne, ist mein urbanes Mittelstandsleben an der amerikanischen Ostküste. Das ist mir vertraut. Was ich nicht kenne, ist das Leben in den Bergen oder in den Wäldern von Oregon. Das muss ich mir erst erschließen, indem ich Menschen beobachte und ihnen Fragen stelle wie: Warum ist diese Hauptstraße hier so leer? Im Übrigen glaube ich auch, dass man in einer Umgebung, die einem allzu vertraut ist, Details übersieht.

Ihre Filme stehen für eine Form von Realismus, ganz im Gegensatz zum gängigen Blockbuster-Kino der Superhelden.

Bei mir gibt es keine Superhelden. Die Menschen in meinen Filmen sind von der alten Schule und besitzen nur analoge Kräfte. Viele unabhängige Filmemacher wie ich stehen auf dem Standpunkt, dass in unserem Leben einfach sehr viele Dinge passieren, die man nicht mit Herumgeballer aus der Welt räumen kann. Die Miete lässt sich nicht mit Herumgeballer bezahlen, und dein Job wird auch nicht besser, wenn du um dich schießt. Ich interessiere mich für Lösungen, die man im echten Leben suchen muss, und das ist auch sehr spannend. Meine Helden sind normale Menschen vom Planeten Erde.

Ihr Film spielt in den herrlichen Wäldern von Oregon, die im Kino immer wieder zu finden sind. Was ist das Faszinierende an dieser Landschaft?

Manchmal hat die Welt Schönheiten zu bieten, die uns in schlichtweg in Ehrfurcht versetzen. Dieser Wald gehört dazu. Dort findet man die höchsten Bäume, die unser Planet hervorbringen kann. Gleichzeitig hat er eine Farbpalette an Grüntönen, die, durch die Filmlinse vergrößert, fantastisch aussehen.

Wie sieht das soziale Gefüge in Oregon aus?

Es ist ganz unterschiedlich. Sehr viel Geld wird mit der Abholzung der Bäume gemacht. Große Papierkonzerne nehmen, was sie kriegen können. Es ist wie ein gigantischer Raubzug, der gesetzlich sanktioniert wird. Diese Form der brutalen Extraktionswirtschaft lässt sehr viele Menschen sehr arm zurück. Und dann beginnen sie konservativ, also Trump zu wählen.

Ihre Hauptfigur ist ein Kriegsveteran, der an posttraumatischer Belastungsstörung leidet. Wie virulent ist dieses PTS-Syndrom in der US-Gesellschaft?

Ich persönlich glaube, dass wir uns über die Auswirkungen, die der Krieg in den Menschen hinterlässt, nicht zur Gänze bewusst sind. Männer und Frauen, die gekämpft haben, übergeben ihren Kindern über Generationen hinweg ein Erbe. Und diese Kinder erben ein Leid, das sie selbst oft gar nicht verstehen können. Nach dem Vietnam-Krieg hat man erhoben, dass es unter den Veteranen eine hohe Selbstmordrate gab. Das will man jetzt anders machen und gibt Kriegsveteranen, die etwa aus dem Irak oder Afghanistan zurückkommen, eine Menge Medikamente. Die sollen die Albträume der Soldaten stoppen – was aber vielfach nicht funktioniert. Das angeknackste Bewusstsein der Menschen lässt sich nicht einfach mit Pillen heilen.

Ein wichtiges Thema in Ihrem Film ist das Leben im Wald und der Verzicht auf Konsum.

Wir leben in einer unglaublichen Konsumkultur, und gerade Amerika befindet sich, was Konsumverhalten betrifft, in einem Hyper-Zustand. Das Schöne an meiner Arbeit am Drehbuch war, sich mit US-Philosophen zu beschäftigen, die über das Gegenteil von Materialismus nachdenken. Vertreter des Transzendentalismus wie Henry David Thoreau (Autor des berühmten Buches „Walden oder Leben in den Wäldern“, Anm. der Red.) oder auch Poeten wie Emily Dickinson haben sich gefragt: Was brauche ich wirklich, um glücklich zu sein? Wenn ich einfach im Wald sitze, ist das gut. Mehr brauche ich nicht. Heute ist das oft sehr schwierig zu verstehen. Wir können uns gar nicht vorstellen, uns ohne unsere Mobiltelefone zu bewegen, sind die meiste Zeit über die Maßen wachsam und haben Angst, dass wir etwas verpassen.

Sie haben für Ihre Filme Schauspielerinnen wie Vera Farmiga, oder, noch prominenter, Jennifer Lawrence entdeckt. Haben Sie ein Händchen dafür, weibliche Schauspielkunst durch interessante Rollen zum Leuchten zu bringen?

Ich fühle mich definitiv dazu berufen, die Möglichkeiten dafür, was Frauen auf der Leinwand alles tun können, zu erweitern. Ich sehe nicht ein, warum weibliche Coming-of-Age-Filme die meiste Zeit nur davon handeln, dass Mädchen auf Boyfriend-Suche sind. Es gibt so viele Aspekte im Leben junger Frauen, die wir einfach nicht zu sehen bekommen. Insofern klingt es vielleicht seltsam, das im Jahr 2018 zu sagen: Aber eine junge Frau wie Thomasin McKenzie in meinem Film zu sehen, die im Wald lebt und mit Werkzeugen hantiert, fühlt sich frisch an. Wenn es also darum geht, gute Rollen für Frauen im Kino zu finden, in denen sie sich von ganz verschiedenen Seiten zeigen können, bin ich sicher die richtige Person dafür.

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