Auf dem gerade beendeten Filmfestival in Venedig zeigte der Franzose Bertrand Bonello mit „The Beast“ seine Version von Henry James’ Novelle über das nicht gelebte Leben. Doch der österreichische Regisseur Patric Chiha war schneller: Bereits im März dieses Jahres eröffnete er mit seinem delirierend-philosophischen, hoch artifiziellen Tanztraktat „Das Tier im Dschungel“ (derzeit im Kino) die diesjährige Diagonale.
Henry James im Club
Patric Chiha, 1975 in Wien geboren und seit seinem 18. Lebensjahr wohnhaft in Paris, sperrte Henry James’ „Beast“ in den glitzernden Dunkelraum eines Pariser Nachtclubs. Dort treffen sich jeden Samstagabend die beiden jungen, schönen Protagonisten John und May – gespielt von dem israelischen Schauspieler Tom Mercier und der Französin Anaïs Demoustier.
Es beginnt im Jahr 1979: May trifft John zufällig im Club und erkennt ihn von einer früheren Begegnung wieder. Damals erzählte er ihr, dass er auf etwas Schicksalhaftes in seinem Leben warte – und sie beschließt, mit ihm zu warten.
Die Jahre vergehen. François Mitterand wird gewählt, AIDS bricht aus, Klaus Nomi stirbt und die Berliner Mauer fällt. Auf der Tanzfläche wogen die Klubbesucher zur Musik zwischen Disco und Techno weiter. Während May anfänglich noch ins Meer der Menge eintaucht, hält sich John als distanzierter Beobachter am Rande. Mehr und mehr zieht er sie an seine Seite, bis auch May schließlich nur noch bleich am Rande der Tanzfläche verweilt und mit John dem Leben der anderen zusieht.
Offene Geheimnisse
„Das Buch von Henry James ist sehr vielschichtig. Wir als Schauspielende mussten akzeptieren, dass wir nicht alles verstehen und für ein Geheimnis offenbleiben müssen“, sagt Anaïs Demoustier im KURIER-Gespräch über ihre Rolle als ewig wartende May: „Manchmal glaube ich, dass es das Tier gar nicht gibt und die beiden auf nichts warten. Es ist wie eine Metapher für das Leben und die Frage: Warum sind wir hier?“
Auch Filmpartner Tom Mercier kann der schwebenden „Liebesgeschichte“, die sich nie wirklich erfüllt, einiges abgewinnen: „Wie viele Menschen gibt es, die sich über 25 Jahre auf so besondere Weise nahe stehen?“
Für Mercier ist „Das Tier im Dschungel“ seine zweite große Filmrolle. Der 29-jährige Israeli wurde von seinem Landsmann, Regisseur Nadav Lapid, entdeckt. In Lapids „Synonymes“ verkörpert er einen Israeli, der sich von Israel lossagt, in Paris ein neues Leben beginnt und sich selbst Französisch beibringt.
„Synonymes“ erhielt 2020 den Goldenen Bären der Berlinale und machte Mercier umgehend bekannt. Dem Publikum blieb ganz besonders eine Szene im Gedächtnis, in der er zu „Pump Up The Jam“ in einem Club einen völlig entfesselten Tanz hinlegt. Dass er sich in „Das Tier im Dschungel“ überhaupt nicht bewegt, sondern nur beobachtet, war für manche Betrachter etwas enttäuschend.
Ob es frustrierend für ihn gewesen sei, nicht selbst mittanzen zu können? Seine Antwort ist ein klares, ja geradezu erbittertes Nein: „Als ich ,Synonymes‘ gedreht habe, war ich ein Gefangener meines Körpers. Aber das ist jetzt vorbei“, sagt Tom Mercier.
Seine Reaktion kommt überraschend. Man spürt die Wut, die ihn überfällt, wenn er an seine Durchbruchsrolle in „Synonymes“ denkt: „Ich war keineswegs frustriert, im Gegenteil: Ich war froh, dass ich nicht mehr den Affen spielen muss. Ich wollte dem Publikum, das mich tanzen sehen will, den Finger zeigen. Die Leute sehen mich als diesen Israeli, der aus dem nichts aufgetaucht ist und toll neue Sprachen lernen kann. Das ist auch gut so. Aber jetzt will ich neue Wege beschreiten.“
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