Das große "Lulu"-Theater

Dass irgendwo in Europa zwei Premieren von Verdis "La Traviata" knapp hintereinander in unterschiedlichen Städten stattfinden, zählt bei den nicht besonders einfallsreich programmierten Opern-Spielplänen fast zum Alltag.
Dass jedoch innerhalb von acht Tagen zwei Neuproduktionen von Alban Bergs in Österreich sträflich vernachlässigter "Lulu" Premiere haben, ist ein Glücksfall.

Ein besonderer noch dazu, wenn zwei derart gefragte Regisseure wie Dmitri Tcherniakov und William Kentridge zugange sind. Ersterer hatte am Pfingstmontagan der Bayrischen Staatsoper Münchenseine Interpretation gezeigt, Letzterer präsentierte nun an der niederländischen Nationaloper in Amsterdam seinen Zugang.
Mit völlig anderen Stilmitteln, in einer Bühnenästhetik, wie sie unterschiedlicher kaum sein kann, erzählen Tcherniakov und Kentridge die Geschichte von der Verführerin, die als Prostituierte in der Gosse landet und schließlich von Jack the Ripper ermordet wird. Sie loten die vielen Facetten der Protagonisten aus und beweisen eindrucksvoll: Der theatralische Anspruch einer gelungenen Opernproduktion muss auf einer Ebene mit dem musikalischen stehen. Die beiden "Lulus" im Vergleich:
Szenische Gestaltung
Amsterdam William Kentridge, einer der wichtigsten bildenden Künstler unserer Zeit, macht seine Inszenierung zu einer großen Kentridge-Werkschau. Er nimmt die Bühne wie eine Leinwand, auf die er Schwarz-Weiß-Zeichnungen und Animationsfilme projiziert. Bewegungen und Tempi sind genial auf die Musik abgestimmt, man sieht unzählige assoziative, auch sehr persönliche Bilder aus seinem Atelier in Südafrika – und eine optische Referenz ans experimentelle Weimar der 1920er-Jahre.
Die Personenführung verliert in Anbetracht der Bilderflut an Bedeutung – wohl auch deshalb, weil Lulu (Mojca Erdmann) keine allzu große verführerische Kraft auf der Bühne hat. Bei Kentridge gibt es keine klaren Urteile, keine Schuldzuweisungen – er entwickelt sein eigenes "Lulu"-Universum. Die Ohren haben bei Bergs Zwölftonmusik vier Stunden lang ohnehin viel zu verarbeiten, die Augen werden hier aber ebenso müde. Sollte Kentridge, den man bei den Wiener Festwochen zuletzt bei Schuberts "Winterreise" erlebte (mit Bariton Matthias Goerne sowie Markus Hinterhäuser am Klavier), demnächst auch Bergs wesentlichen kürzeren "Wozzeck" inszenieren, wird das bestimmt noch fokussierter.
Ein paar Kilometer entfernt, im "Eye Museum", ist eine eigene Kentridge-Ausstellung mit einem speziell für Amsterdam entwickelten Animationsfilm zu sehen – so kann man Genres miteinander verknüpfen.
München Dmitri Tcherniakov macht (auf seiner eigenen Bühne) das Gegenteil von Kentridge. Er reduziert "Lulu" auf die Essenz, die Tragödie der Figuren und lässt die Gesellschaft durch ein gläsernes Labyrinth bei ihrem Untergang zuschauen. Diese Regie ist dramatisch in ihrer Kälte, jene von Kentridge hochemotional und poetisch.
Das Orchester
Amsterdam Lothar Zagrosek dirigiert (als Einspringer für Fabio Luisi, der aus familiären Gründen kurzfristig abgesagt hatte) das Concertgebouw Orchester. Gespielt wird wie in München die von Friedrich Cerha vervollständigte Fassung. Zagroseks Lesart ist analytisch, fast mathematisch, extrem metronomisch orientiert. Man denkt an Größen wie Pierre Boulez – und sehnsüchtig daran, wie "Lulu" eine Woche davor geklungen hat.
München Kirill Petrenko schafft es, die Partitur hochpräzise aufzufächern, in den Verwandlungsmusiken aber auch einen phänomenalen Klangrausch zu entwickeln. Sein Berg-Dirigat ist wie eine Weiterführung seiner Reisen durch den Wagner-Kosmos mit konsequenter Sprengung der Tonalität.
Die Protagonisten
Amsterdam Mojca Erdmann singt die Lulu mit schönem (kleinen) Sopran und wenig Ausstrahlung. Auch Jennifer Larmore (Geschwitz), Johan Reuter (Dr. Schön) und Daniel Brenna (Alwa) sind nicht ideal besetzt. Sehr gut singen William Burden (Maler/Neger) und Franz Grundheber (Schigolch).
München Marlis Petersen ist in jeder Hinsicht eine grandiose Lulu – sie wird diese Partie auch in der Kentridge-Inszenierung geben, wenn diese im Herbst zum Koproduktionspartner an die New Yorker MET übersiedelt. Bo Skovhus hat man lange nicht mehr so gut und intensiv gehört wie als Dr. Schön.
Das Gemeinsame
Beide Produktionen sind anspruchsvoll, mutig, innovativ, zeitgemäß.
Das Trennende
Die musikalische und gesangliche Qualität ist in München höher, die Interpretation leichter verständlich (obwohl es dort im Gegensatz zu Amsterdam auch Buhs gegen die Regie gab).
Das Fazit
Amsterdam und München haben die Alban-Berg-Rezeption hochkarätig vorangetrieben und das versucht, was schon für den Komponisten selbstverständlich war: Musik und Szene gleichrangig zu behandeln.
KURIER-Wertung:(für Amsterdam)
KURIER-Wertung:(für München)
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