Nachsitzen für die Revolution

Ein junger Mann hält eine Taube auf einem Dach mit Gebäuden im Hintergrund.
In seinem subtil kritischen Film stellt Ernesto Daranas der kubanischen Revolution ein schlechtes Zeugnis aus.

Im Land, wo die Zeit vor langer Zeit angehalten wurde, ticken die Uhren plötzlich wieder. „Die Isolation Kubas hat nicht funktioniert“, sagte US-Präsident Barack Obama unlängst und strich Kuba von der Terrorliste. Während die ehemaligen Erzfeinde gerade über die Zukunft verhandeln, bröckelt das Freilichtmuseum der Revolution unter der karibischen Sonne munter vor sich hin. Mit den Folgen der verblichenen Träume von einer besseren Zukunft setzt sich „Conducta“ auseinander, ein Film, der in Habana Vieja, dem ältesten Stadtteil von Havanna spielt, in dem auch der Regisseur Ernesto Daranas aufgewachsen ist. Ein Ort, wo die kaputte Architektur ein Abbild der Politik und der darunter leidenden Gesellschaft ist.

Daranas Sozialdrama – seit 8. Mai im Kino – wurde in Kuba frenetisch gefeiert. Hauptfigur ist der 11-jährige Chala, der von seiner Mutter, eine drogenabhängige Prostituierte, im Stich gelassen wird – keine Familie, keine Liebe, keine Zukunft. Einzig und allein seine engagierte Lehrerin Carmela gibt Chala nicht auf und sieht es als ihre Aufgabe, den Jungen ein anderes, besseres Leben zu ermöglichen.

KURIER: Warum hatte ihr Film in Kuba so viel Erfolg?
Ernesto Daranas: "Conducta" spielt auf den Straßen Havannas, in denen ich mein ganzes Leben verbracht habe. Einige Probleme der aktuellen kubanischen Gesellschaft werden dabei natürlich sichtbar, grundsätzlich wollte ich aber eine universelle Geschichte erzählen. Jedermann weiß, wie wichtig eine erzieherische Bezugsperson für ein Kind ist, insbesondere dann, wenn dieses Kind aus schwierigen Verhältnissen kommt. Das mag zumindest teilweise erklären, weshalb der Film in Kuba wie im Ausland auf so viel Anteilnahme stößt.

Wollten Sie mit der Geschichte die Kubaner wachrütteln?
Mich treibt kein moralischer Eifer an und der Film bietet auch für keines der aufgezeigten Probleme eine Lösung an. Ich wollte ganz einfach von Dingen erzählen, die mich beschäftigen.

Hat der Film Diskussionen ausgelöst?
Ja, er hat eine breite Debatte im ganzen Land ausgelöst. Ich glaube, es liegt daran, dass die Menschen sich selbst, ihr Leben und ihre Probleme in diesem Film wiederfinden. Es ist quasi ihr Film, ihr Leben. Das hat sie berührt. Die heftigen Reaktionen auf einzelne Szenen kamen aus dem tiefsten Inneren. Das Schönste war, dass viele Menschen zumindest einen Moment lang mal nicht über die ewig gleichen Alltagsprobleme sprachen, sondern über Themen debattierten, die im Film vorkommen. Das hat mich sehr gefreut und berührt.

Basiert die Geschichte auf reale Erlebnisse?
Wir sind von Recherchen ausgegangen, die wir zusammen mit Studierenden der Filmhochschule, die Teil der Filmcrew waren, intensiv betrieben hatten. Einige Elemente haben autobiografischen Charakter, andere sind von persönlichen Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer geprägt, mit denen wir gesprochen hatten. Den Rest brachten die Kinder ein, die im Film mitspielen. Keines von ihnen hatte Schauspielerfahrung, sie stammen aber allesamt aus einem ähnlichen sozialen Umfeld, wie es in "Conducta" nachzeichnet wird, und wir waren sehr offen für ihre Sicht der Dinge.

Spielen in ihrem Film also nur Laien mit?
Nein, die erwachsenen Figuren im Film werden von professionellen Schauspielern verschiedener Generationen interpretiert. Für die Kinder machten wir zuerst einen Casting-Aufruf im Fernsehen. Ein großer Fehler. An jenem Tag kamen tausende Eltern mit ihren Kindern im Schlepptau. Ein wahrer Massenauflauf in den Straßen, wir waren völlig überfordert.

Ein Mann kniet vor einer Kamera mit Zubehör am Set eines Drehs.
Wie frei ist man als Filmemacher auf Kuba?
Der kubanische Film zeichnet sich durch eine starke Berufung zur Sozialkritik aus und das führt oft zu Spannungen. Im Falle von "Conducta" hatte ich große Freiheiten. Ich konnte einen Film machen, ohne dem Produzenten vorher ein Drehbuch vorlegen zu müssen.

Müssen die vom staatlichen Filminstitut (ICAIC) geförderten Filme einen Propaganda-Zweck erfüllen?
Es gibt bestimmte Auftragsarbeiten, aber die Mehrheit der Filme, die auf Kuba gedreht werden – seien es unabhängige, institutionelle oder Koproduktionen –, spiegeln die Interessen und die Anliegen der Filmemacher wider.

Wie viel Kritik am System ist möglich?
Ein Film kann die Welt nicht verändern, trägt ihr gegenüber aber eine Verantwortung. Das ist viel komplexer und wichtiger als Kritik um der Kritik willen.

Wie reagieren die Menschen auf die mögliche Aufhebung des Embargos?
Die große Mehrheit der Kubaner wünscht sich, dass der von Barack Obama und Raúl Castro ins Rollen gebrachte Prozess zur Aufhebung der Blockade führt und die neue Situation unserem Volk viele neue Möglichkeiten eröffnen wird. Welche Veränderungen tatsächlich stattfinden und ob sich diese dann auch positiv auf die Gesellschaft auswirken werden, wird sich zeigen.

Das Schulsystem auf Kuba wird als Errungenschaften der kubanischen Revolution bezeichnet. Ist es aktuell noch vorbildlich?
Trotz der tiefen wirtschaftlichen Krise, die Kuba seit einem Vierteljahrhundert erleidet, ist es eines der Länder mit der höchsten Einschulungsquote der Dritten Welt. Unvermeidlich beeinträchtigen die Probleme, die sich während dieser Krise angehäuft haben, alle Schichten der kubanischen Gesellschaft, und das Schulsystem ist nur ein Teil davon.

Sind Pädagogen wie Carmela ein Sonderfall?
Die Figur der Carmela lehnt sich an die Erfahrungen von wirklichen LehrerInnen an und natürlich erhält das Schulsystem in Kuba einen eigenen Zuschnitt und spielen soziale Bedingungen eine Rolle. Der internationale Parcours, den "Conducta" durchläuft, zeigt uns aber, dass die Menschen überall auf der Welt die Bedeutung einer engagierten Lehrkraft versteht. Oft gibt es zuhause Probleme, wirtschaftliche Engpässe oder andere Nöte. Gerade sie sollten in der Schule nicht nochmals auf negative Mechanismen stoßen, sondern – das wäre wünschenswert und wichtig – auf jemanden wie Carmela.

Würden Pädagogen im westlichen Bildungssystem so handeln wie Carmela, würden Sie sofort fristlos entlassen werden. Warum entzieht man Lehrern immer mehr Handlungsspielraum?
Der Lehrer oder die Lehrerin ist jemand, der das Wissen einer bestimmten Materie vermitteln kann, der umfassende Pädagoge gibt darüber hinaus Werte und Gefühle weiter, was im Film über die Figur von Carmela aufgegriffen wird. Dieser Typ von Schullehrer ist weltweit in Krise, wie wir feststellen konnten. Bildungssysteme gründen heute Mechanismen, die zwar in jedem Land eigenen Ausprägung haben, diese Funktion aber tendenziell zunehmend beschneiden. Im Interesse der einzelnen Gesellschaft werden eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die den Handlungsspielraum des klassischen Lehrers immer mehr einschränken.

Carmela hat aufgrund eines Heiligenbildes, das in der Klasse aufgehängt wird, Probleme mit der Schulleiterin? Wie streng ist der Staat in Bezug auf Religion in den Schulen?
Das Heiligenbild im Film spielt auf schematisches Denken und Dogmen aller Art an. Sie können zum Nährboden werden von Fundamentalismen aller Art, die die Entwicklung einer jeder Gesellschaft hemmen. Abgesehen davon ist das Bildungssystem auf Kuba laizistisch und es herrscht Glaubensfreiheit.

Kuba: 11 Reise-Tipps abseits von Salsa und Mojito

Ein blaues Oldtimer-Auto steht auf einer Kopfsteinpflasterstraße in Kuba.

Das Capitolio in Havanna, Kuba, teilweise mit Baugerüsten bedeckt, mit Oldtimern davor.

Ein Tisch gedeckt mit verschiedenen kubanischen Speisen wie Hühnchen, Reis und Bohnen.

Eine Frau steht vor einem einfachen Holzhaus mit Wäscheleine, auf der Kleidung hängt.

Vier Männer spielen im Freien Domino und rauchen dabei.

Mehrere Bündel handgefertigter Zigarren, verpackt in getrockneten Blättern.

Ein türkisfarbenes Oldtimer-Auto mit geöffneter Motorhaube steht auf einer Straße in Havanna.

Ein ruhiger Strand mit türkisfarbenem Wasser und bewölktem Himmel.

Ein brauner Riesentausendfüßler klettert auf einem Baumstamm.

Eine Gruppe kubanischer Schulkinder steht vor einem Gebäude mit Wandmalereien.

Eine Gruppe von Jungen spielt Fußball auf einem grünen Feld.

Sonnenuntergang über dem Wasser mit Palmen und dem beleuchteten Schriftzug „Cienfuegos“.

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