Chaya Czernowin bei Wien Modern: „Ich lebe durch mein Ohr“

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Die Komponistin über ihren Schwerpunkt im Musikverein, Antisemitismus, Boykottmaßnahmen – und einen inspirierenden Vogel

Die Saiten surren, die Geräusche verschlingen sich zu einem atonalen Gewebe, das bis an die Schmerzgrenze ins Ohr dringt. Aufwühlend, intensiv intonieren die vier Musiker des Arditti Quartetts ein Stück mit dem Titel „Ezov“. Chaya Czernowin hat ihr 4. Streichquartett für die legendäre Formation geschrieben, das in den ersten Tagen von Wien Modern zur Aufführung kam. Am 25. November führen die Neuen Vocalsolisten beim traditionellen Abbado-Konzert des Festivals „Immaterial“ im Musikverein auf, ein Stück, das die Möglichkeiten der menschlichen Stimme ausreizt. Und am Sonntag, 23. November, ist „Fast Darkness III“ im Gläsernen Saal zu hören.

Der Schwerpunkt im Musikverein, dem Herzstück der Wiener Musikszene, wie sie die Institution im KURIER-Gespräch nennt, bedeute ihr sehr viel, betont die Komponistin. Denn sie hat vier Jahre in Wien gelebt und unterrichtet.

Ihre Kompositionen, wie „Atara. Ein Lamento für Orchester und zwei verstärkte Stimmen mit einem Text von Zohar Eitan“, das 2021 im Musikverein in düstere Welten führte, verwandelt Schmerzen in Töne. Ihre verstörenden Klangwelten muten oft wie ein Kommentar zur Gegenwart an. Denn in Czernowins Arbeiten geht es sehr oft um politische Fragen – wie in ihrer Oper „Pnima“ aus dem Jahr 2000.

Darin habe sie sich dagegen gewehrt, wie die israelische Regierung den Holocaust benutzte. „Ich habe mich gegen die Art und Weise aufgelehnt, wie wir, die Kinder von Holocaust-Überlebenden, zu sogenannten ,Erinnerungslichtern‘ gemacht wurden. Ich wollte keine Gedächtniskerze sein. Ich wollte ein Kind sein. Und so war ,Pnima‘ eigentlich ein Protest gegen die Macht der Geschichte, die uns als Symbole darstellt.“

Eintreten für den Frieden

Schon damals mahnte sie, „dass es für das Opfer sehr leicht ist, selbst zum Täter zu werden“. Und „der 7. Oktober ist natürlich ein Holocaust für uns. Aber – ohne es reduzieren zu wollen – es ist kein ein isoliertes Ereignis“, sagt sie und distanziert sich klar gegen das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza. Was die Boykottmaßnahmen gegen Menschen aus Israel betrifft, gibt sie ein Beispiel: die Universitätsprofessoren, die von der Regierung bezahlt werden. „Aber viele von ihnen treten sehr heldenhaft gegen die Regierung auf, das aber mit großem Risiko. Sie zu canceln wäre falsch, denn sie treten für Frieden zwischen Israeli und Palästinensern ein“.

Und was sagt sie zum immer stärker werdenden Antisemitismus? Sie selbst sei noch nicht damit konfrontiert gewesen, stellt sie klar und fügt hinzu: „Ich fühle mich überhaupt nicht als Opfer, sondern als beschämter Teil des Problems.“

Das Gespräch wendet sich gegen Ende wieder der Musik zu. Was inspiriert Sie? „Es ist immer unterschiedlich“, sagt sie. An einem Morgen war es ein Vogel. Fast eine Viertelstunde hörte sie seinem Gesang zu und nahm ihn mit ihrem iPhone auf, um ihn in einem ihrer Stücke einzubauen.

„Er hatte zwei verschiedene Klänge und vollzog eine Transformation zwischen diesen beiden. Ich stand einfach da und dachte: Wow, was für eine schöne Lektion in Komposition. Auch die Bewegung der Blätter kann eine Inspiration sein. Man schaut sie an und fragt sich, warum sich die einen bewegen und die anderen nicht. Manchmal höre ich auch Musik, wenn ich einen Schatten an der Wand sehe. In diesem Sinne bin ich sehr synästhetisch. Ich lebe also durch mein Ohr ...“

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