Cannes-Filmfestival: Spuren des Krieges und der Familie

Renate Reinsve (li.) als erfolgreiche Schauspielerin und unglückliche Tochter in Joachim Triers „Sentimental Value“.
Es ist der 26. April 1990. In zwei Tagen hat Saddam Hussein Geburtstag. Der Diktator erwartet, dass die gesamte irakische Bevölkerung mitfeiert. Ein neunjähriges Mädchen namens Lamia wird von ihrem Schullehrer dazu verdonnert, einen Kuchen zu backen – zu Ehren Husseins und zum Gusto des Lehrers, dem schon bei dem Gedanken an die Cremefüllung das Wasser im Mund zusammen läuft. Von der Mühsal des mittellosen Provinzmädchens im Süden Iraks, die nötigen Zutaten wie Eier, Mehl und Zucker aufzutreiben, handelt der erste irakische Film, der je im Rahmen des Filmprogramms von Cannes gezeigt wurde.
Vom Alltagsleben unter der Saddam-Diktatur, wo das Militär die verarmte Bevölkerung einschüchtert, alle nur mit brüllenden Soldatenstimmen reden und zwischendurch US-Bomben vom Himmel regnen, erzählt der irakische Regisseur Hasan Hadi in seinem hinreißenden Debütfilm „The President’s Cake“. Mit sicherer Hand balancierte er zwischen dramatischer Gewichtigkeit und leichtfüßigem Tonfall und erhielt dafür einen Publikumspreis.

Sergei Loznitsas kafkaeske Stalin-Parabel: „Two Prosecutors“.
Diktatur, Folter und Krieg – in der Gegenwart und in der Vergangenheit – zählten mit zu den bestimmenden Themen, die sich durch das diesjährige Programm des 78. Filmfestivals in Cannes zogen. Im Wettbewerb um die Goldene Palme war es der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa, der in seinem kafkaesken Drama „Two Prosecutors“ einen bedrückenden Ausflug in die stalinistische Terrorwelle von 1937 unternimmt und einen jungen Staatsanwalt in den Rädern des sowjetischen Justizsystems zermalmt. Mit kühler Präzision seziert Loznitsa die albtraumartig-absurden Abläufe einer korrupten Institution und liefert ein historisches Drama, das dumpf in der Gegenwart nachhallt.
Alltag im Krieg
Dezidiert in der Jetztzeit verankert sich die österreichischer Koproduktion „Militantropos“, die in einer Nebensektion gezeigt wurde. Die ergreifende, stimmungsvoll inszenierte Doku erzählt vom Alltag der ukrainischen Bevölkerung während des russischen Angriffskrieges. „Militantropos“ strebt in seinen ästhetisierten Aufnahmen nach Schönheit inmitten des Krieges. Die Filmemacher Alina Gorlova, Simon Mozgovyi und Yelizaveta Smith bilden ein Kollektiv auf Bildersuche: Sie finden eindrucksvolle Impressionen von Landschaften, über die Vogelschwärme kreisen, der Rauch von Bomben aufsteigt und in deren Erde Gräber geschaufelt werden. Die vom Terror des Angriffs erfassten Menschen üben sich in kriegerischen Alltagsroutinen und weinen bitterlich an den Särgen ihrer geliebten Toten; zwei weitere Teile folgen.

Jafar Panahis „It was just an accident“
In unserer politischen Gegenwart findet sich auch das neue, hoch akklamierte Werk von Jafar Panahi. Der iranische Filmemacher, der lange mit einem Arbeits- und Reiseverbot belegt war und selbst im Gefängnis saß, konnte erstmals seit 15 Jahren wieder persönlich zum Festival nach Cannes anreisen. In seinem Politthriller „It was just an accident“, den er ohne offizielle Erlaubnis heimlich gedreht hat, nimmt sich Panahi kein Blatt vor den Mund: Ein Mann namens Azeri kidnappt spontan seinen Folterer, der ihn im Gefängnis gequält hat. Zwar hat er ihn persönlich nie gesehen, glaubt aber, ihn am Schrittklang seiner Beinprothese erkannt zu haben. Er möchte Rache nehmen, doch dann kommen ihm auf einmal Zweifel: Was, wenn der Mann, der alles abstreitet, gar nicht der Richtige ist?
In seinem straff inszenierten Roadmovie-Drama, das auch komische Untertöne aufkommen lässt, legt Panahi die Brutalität des iranischen Regimes frei. Denn Rache oder nicht, die Folgen der Gewalt werden die Opfer immer begleiten.
Vater-Tochter-Konflikt
Gibt es eine norwegische „Neue Welle“? Gerade hat Dag Johan Haugerud mit „Oslo-Stories: Träume“ in Berlin den Goldenen Bären gewonnen, kehrt sein norwegischer Kollege Joachim Trier nach Cannes zurück. Dort feierte er 2021 mit seinem Drama „Der schlimmste Mensch der Welt“ Premiere, seine Hauptdarstellerin Renate Reinsve wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
In seinem neuen Familiendrama „Sentimental Value“ stellt Trier erneut Renate Reinsve als erfolgreiche Schauspielerin namens Nora in den Mittelpunkt, stellt ihr allerdings den schwedischen Schauspiel-Star Stellan Skarsgård zur Seite: Er verkörpert einen einstmals erfolgreichen Regisseur, der einen neuen Film plant und die Hauptrolle seiner Tochter Nora geben möchte. Nora allerdings lehnt ihren egozentrischen Vater rigoros ab. Gekonnt baut Joachim Trier ein komplexes, vielschichtiges Familiendrama rund um den Vater-Tochter-Konflikt und holt dabei – wie immer – das Beste aus seinem exquisiten Schauspiel-Ensemble heraus: Auch sein „Sentimental Value“ zählte zu einem der Höhepunkte im Filmfestival von Cannes.
.
Kommentare