„Caché“ im Volkstheater: Psychothriller als Spiel mit der Fiktion

Erinnert an ein Vexierbild von M.C. Escher: Man glaubt, von oben auf den Parkettboden und Johanna Wokalek im Bett zu schauen
Irgendwann, nach etwa einer Dreiviertelstunde, beginnt Anne die Nerven zu schmeißen. Und Georges, ihr Ehemann, befeuert gereizt den Streit: „Mach doch nicht so ein Theater!“ Aber genau darum geht es doch: Ein Theater zu machen. In fiktive Rollen zu schlüpfen, authentisch zu wirken, Emotionen vorzugaukeln. Eben: zu spielen.
Und so spielt Johanna Wokalek im Volkstheater eine erfolgreiche Frau, deren scheinbar fest gefügte Welt unvermittelt ins Wanken gerät. Wiewohl ihre Anne – abgesehen von der Kollektivschuld der kolonialistischen Ausbeutung – keinen Grund hierfür geliefert hatte: Die Ereignisse als Auslöser des Psychothrillers liegen Jahrzehnte zurück. Und haben, wie sich herausstellt, mit ihrem Mann, eben Georges, zu tun. Als dieser ein unmündiges Kind war.

Schmeißt die Nerven: die Anne der Johanna Wokalek
In seinem Film „Caché“, 2005 herausgekommen, erzählt Michael Haneke eine seiner ungemein beklemmenden Geschichten: Ein Elternpaar erhält Videokassetten, die nahelegen, dass es beobachtet wird. Das Reizvolle war damals, dass der Zuschauer mitunter nicht unterscheiden konnte, ob er den „echten“ Film sah – oder die Videobilder der Überwachungskamera.
Alles aus den Fugen
Doch wie soll man aus diesem fürs Kino konzipierten Vexierspiel Theater machen? Felicitas Brucker, von 2009 bis 2014 Hausregisseurin am Schauspielhaus, gelang dies bei ihrer Wien-Rückkehr exzellent. Nicht allein, wohlgemerkt, sondern als kongeniales Duo mit Viva Schudt. Denn die Ausstatterin entwarf für die hochkomplexe Dramatisierung, die am Sonntag als zweite große Premiere im Volkstheater unter der Leitung von Jan Philipp Gloger ihre Uraufführung hatte, ein geradezu faszinierendes Bühnenbild.
Die zweigeschossige, zeitgeistig eingerichtete Wohnung, laut Computerstimme aus dem Off ein „Einfamilienhaus in einem Vorort“, wirkt zunächst realistisch, aber schon bald wie von einer KI entworfen. Denn kein Mensch würde die Küchenzeile oben einbauen – und den Esstisch unten bei der Eingangstür. Erst mit der Zeit (die bekanntlich seit Hamlet aus den Fugen ist) entdeckt man, dass noch so manches nicht stimmt: Waagrechte Flächen, darunter der Parkettboden, sind in die Vertikale gekippt, die Protagonisten verlieren den Boden unter den Füßen und legen sich stehend hin. „Vertigo“ (Schwindel) eben, wie einer der nachhaltigsten Filme von Alfred Hitchcock heißt.
Schwarze Löcher
Felicitas Brucker nutzt diesen geheimnisvollen Spielplatz samt angedeutetem Swimmingpool (die Farben Blau und Mint dominieren die Ausstattung), verborgenen Treppen und schwarzen Löchern, aus den Lemuren steigen, mit Lust am Unheimlichen. Denn in ihrer Inszenierung, die auch auf „Shining“ Bezug nimmt, decken sich die behauptete Realitätsebene und das Videobild nicht oder nicht immer. Sie führt – wie Haneke – den Betrachter aufs Glatteis. Wenngleich ganz anders als im Film.
Das beginnt schon beim Intro: Man sieht zwar Bilder einer starr montierten Überwachungskamera, auf den Eisernen Vorhang projiziert. Aber der Loop zeigt nicht das Haus der Familie Laurent. Später gibt Felicitas Brucker vor, das gemeinsame Abendessen mit Close-ups zu ergänzen, übertragen auf zwei Screens (auf den „normalen“ Bildschirm im Wohnzimmer und den riesigen über der Szenerie). Doch zwischen die Livebilder schummeln sich aufgezeichnete Clips, die das Abgründige offenbaren.
Geräuscheffekte und die beklemmend suggestive Musik von Markus Steinkellner untermalen den Horror. Und Brucker versteht es auch, schockartig zu überraschen.

Von den Videos, die dem Elternpaar „zugespielt“ werden (sie fallen vom Bühnenhimmel herunter oder befinden sich in einem Carrefour-Plastiksackerl), sieht man übrigens in der Regel nichts: Den Inhalt erfährt man als Zuschauer nur aus den Kommentaren von Anne und Georges beim Betrachten, die Augen auf eine imaginäre Leinwand mitten im Saal gerichtet. Das ist ein geradezu antiker Theaterkniff. Die Bilder entstehen im Kopf.
Raffiniert „spielt“ Felicitas Brucker auch mit den Möglichkeiten, Sequenzen rückwärts oder mehrfach ablaufen zu lassen – im tatsächlichen Spiel auf der Bühne. Denn ja, sie macht Theater. Und im Theater, das ein allgegenwärtiges Problem (zum Beispiel das europäische Herrenmenschentum) aufbereitet, ist es völlig egal, dass die Geschichte aufgrund der historischen Bezüge (im Jahr 1961) und des Fortschritts – wer hat heutzutage noch einen VHS-Recorder? – nie im Leben 2025 spielen kann.
Freund und Feind
Georges ahnt schon bald, welche Bedeutung die Videos haben könnten: Er versucht die Sache nach Männerart kleinzureden, um dann doch in Panik zu verfallen. Denn die gesicherte Existenz des Moderators einer Literatursendung steht auf dem – schon wieder das Wort! – Spiel. Da muss er seiner Frau nach Männerart drüberfahren. Aber weil er ein einsamer, wenngleich überforderter Held ist, verkörpert Sebastian Rudolph ausschließlich ihn.
Johanna Wokalek hingegen, überzeugend als Anne in deren zunehmender Verzweiflung, schlüpft nebenbei in andere Rollen – wie auch Moritz Grossmann, in erster Linie pubertierender Sohn. Allgegenwärtig aber ist Bernardo Arias Porras (neu im Ensemble wie Wokalek und Rudolph): als Freund wie als Feind, als Geist aus der Vergangenheit und Schreckgespenst der Gegenwart. Dass die Grenzen immer wieder verwischen, macht es bis zum Schluss spannend.
Die enervierende Langsamkeit Hanekes fehlt zwar, aber so dauert die vielbejubelte Inszenierung, mit der das Volkstheater der Burg Paroli bietet, eindreiviertel Stunden – und ist damit um zehn Minuten kürzer als der Film.
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