Marko Dinićs „Buch der Gesichter“: Acht Versionen eines Verschwindens

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Die literarische Aufarbeitung eines wenig bekannten Kapitels serbischer Geschichte - nominiert für den Deutschen Buchpreis

Als das okkupierte Serbien 1942 für „judenfrei“ erklärt wurde, meinte Branko, die Juden sollten doch „in ihr eigenes Land“ gehen, dort würden sie „sicher nicht getötet“. Dass „die Juden“ kein eigenes Land hätten, das könnten doch arme Bauern wie er nicht wissen.

Schon lange davor behandelten die Leute hier ihre Hunde besser als Juden und Olga wollte dorthin, wo einst das gelobte Land war. Nach Palästina, wohin Schiffe namens „Hoffnung“ die aus Europa vertriebenen Juden und Jüdinnen bringen würden. Das Einzige, was Olga besaß, das Buch Hagada, dieser wertvolle Schatz, von dem außer ihr keiner wusste, sollte ihr dabei helfen.

Olga Ras kam nicht nach Palästina. Sie verschwand. Wohin, das versucht ihr Sohn Isak Jahrzehnte später herauszufinden.

Literaturrätsel

Auch Marko Dinićs Roman „Buch der Gesichter“ ist ein Versuch, der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Wahr ist: Serbien wurde als eines der ersten Länder Europas von den Nazis für „judenfrei“ erklärt. In diesem historischen Rahmen erzählt Marko Dinić die Geschichte eines Mannes namens Isak Ras, der vielleicht, wie es im Buch heißt, der „letzte Jude Beograds“ war. Wie und warum seine Mutter Olga einst verschwand, wird in acht Kapiteln in unterschiedlichen Tonlagen und Perspektiven berichtet.

„Das Buch der Gesichter“ ist, neben der Aufarbeitung eines historischen Kapitels, nämlich der Vertreibung und Ermordung der serbischen Juden, ein hochliterarischer, vielstimmiger Krimi, der zunächst auch etwas verwirrend wirkt: Nicht zufällig stammt das erste von vielen literarischen Zitaten hier von Leo Perutz, dem Prager Schriftsteller, der mit Romanen wie „Nachts unter der steinernen Brücke“ meisterhaft verworrene Literaturrätsel schuf.

Ähnlich wie bei Perutz, geht es auch bei Dinić um vertriebene jüdische Kultur. Und andererseits um Möglichkeiten und Varianten eines Ereignisses. Dazu kommen Zwillings- und Doppelgängermotive: Im Zentrum steht das jüdische Buch Hagada, das vom Auszug der Juden aus Ägypten erzählt. Dessen Verschwinden hat möglicherweise auch mit dem Verschwinden Olgas, der Mutter des letzten Juden der Stadt, zu tun. Dafür tauchen Zwillinge und Doppelgänger auf, nicht zuletzt Namensvetter des Autors Dinić. Dass serbische Soldaten das jüdische Buch für etwas Muslimisches halten und zerstören, als sie 1992 Sarajewo anzünden, könnte die Pointe des Doppelgänger-Motives sein.

Die jahrhundertelange Verfolgung der Juden und der Hass auf alles Muslimische, den man die bosnisch-serbischen Truppen gelehrt hat: Sie sind zwei Seiten einer Medaille in Marko Dinićs komplexem, literarisch-historischem Vexierspiel, das diese Woche für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.

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Marko Dinić:
„Buch der Gesichter“
Zsolnay.
460 Seiten.
28,80 Euro