Literatur? Existenz!

Nein, Literatur ist kein „minderbemittelter Bastard der globalen Vergnügungsindustrie.“
Literatur ist Beobachterin der Welt. Sie diagnostiziert. Sie urteilt über Bedingungen des menschlichen Lebens, sie „macht kompetent in Fragen, die alle betreffen und für die es doch keine gesellschaftliche Ausbildung gibt.“ Was Menschen wirklich erfahren haben, von ihrer Lebensgeschichte, ihren Träumen bis zu ihrer Libido, davon kann nur die Literatur sprechen.
Wie Roger Willemsen über Literatur sprach und schrieb, ist mehr als eine Liebeserklärung an dieses Medium, das oft bloß als schöne Kunst, als möglichst vergnügliches Beiwerk zu den wirklich wichtigen Dingen betrachtet wird. Willemsen machte klar: Literatur beschreibt Existenz, sie „bedroht jeden Lebensbereich mit Veröffentlichung“, sie ist ein „Sammelbecken von Erfahrungen, die sich der Humanität verpflichten.“
Im Februar 2016 ist Roger Willemsen gestorben. Er war Autor, Literaturwissenschafter, Fernsehmacher, Gesellschaftsanalyst, Genie. Nein, das ist keineswegs übertrieben. Eine persönliche Anekdote dazu: Der KURIER bat Willemsen einst zum Telefoninterview, es ging damals um das Ende von „Wetten, dass..?“. Willemsen vergaß auf den Termin. Das Gespräch fand dann zwar noch statt, dauerte aber keine zehn Minuten statt der vereinbarten Stunde. Er war zerknirscht. Was er aber in diesen wenigen Minuten an klugen Gedanken formulierte, das war druckreif bis ins Detail. Zehn Minuten Roger Willemsen waren bereichernder als Stunden mit anderen.
Das Buch „Liegen Sie bequem“, das die deutsche Literaturkritikerin Insa Wilke nun herausgegeben hat, versammelt Gedanken über Literatur, Buchempfehlungen und Autorenporträts, die Willemsen im Lauf der Jahre geschrieben hat. Klug, leidenschaftlich und sehr unterhaltsam. Etwa seine Überlegungen zu Goethe, dem gemeinhin bescheinigt wird, als Mensch nicht auf der Höhe seines Werks gewesen zu sein. Was auch Goethe selbst monierte. „Da man an mein Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter.“ Bei Willemsen liest sich das so: Der Mann sei gewesen, was man im Rheinischen „ne fiese Möps“ nennt, auf Wienerisch so etwas wie ein „Ungustl“. Macht aber nichts, zitiert er sodann Oscar Wilde: „Dass einer Wechsel fälscht, sagt nichts über sein Geigenspiel.“ Wie einfach dieser schlichte Satz doch das häufige Gedankenwälzen über die Frage, ob man Autor und Werk gleichstellen kann, beantwortet! Und egal, was für ein mieser Kerl ein Autor gewesen sein mag, er hat auf jeden Fall mehr Zeit mit seinem Werk verbracht als der Leser, heißt es dann in den zehn Regeln, die Willemsen für Leserinnen und Leser aufstellt. Die vielleicht wichtigste: „Urteilen Sie behutsam“, denn: „Wenn Sie sich langweilen, muss es nicht am Buch liegen.“

Roger Willemsen:
„Liegen Sie bequem?“
S. Fischer.
445 Seiten.
29,95 Euro