Hoffnung auf Ehre? Lachhaft

Hoffnung auf Ehre? Lachhaft
Ein ehrenhafter Abgang. Éric Vuillards Roman-Reportage erzählt von kolonialer Ausbeutung und davon, wie eine Reifenfirma gute Geschäfte damit machte

Der Wald war geometrisch, die Gummibäume im gleichen Abstand voneinander gepflanzt, damit jeder Arbeiter nur ein paar Schritte machen musste und nie aus dem Takt kam.

Der amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor (1856–1915) begründete das Prinzip der Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen: „Ein Mann mit der Intelligenz eines durchschnittlichen Arbeiters kann für die heikelste und schwierigste Arbeit dressiert werden, wenn sie sich oft genug wiederholt, und seine unterlegene Mentalität befähigt ihn mehr als den Facharbeiter dazu, die Monotonie der Wiederholung zu ertragen.“

Der französische Industrielle André Michelin (1853–1931) hatte den Amerikaner nur einmal getroffen, er war beeindruckt von seiner „Bescheidenheit“. Ebenso von Taylors Theorien, die Michelin in all seinen Fabriken zur Anwendung brachte. So auch in den Gummiplantagen in Indochina, dank derer er Weltmarktführer der Reifenindustrie wurde.

Nicht nur die monotonen Arbeitsabläufe und die Misshandlungen in den Plantagen hatten einen strengen Rhythmus, auch die Selbstmorde der Arbeiter. Die Kolonialverwaltung schickte Gewerbeaufseher zu den Michelin-Plantagen, um dieser „Selbstmordepidemie“, die andernorts für Arbeiteraufstände gesorgt hatte, auf den Grund zu gehen.

Hier, im Sommer 1928, setzt Éric Vuillards reportagehafte Erzählung „Ein ehrenhafter Abgang“ ein. Der 1968 geborene Schriftsteller, im Wahlkampf 2022 Unterstützer des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon, ist bekannt für Bücher, in denen er Momente der Weltgeschichte neu erzählt. Für „Die Tagesordnung“ über die Nazi-Geschäfte deutscher Wirtschaftsgranden wurde er 2017 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Im Zentrum seines neuen Romans stehen die Umstände von Frankreichs Rückzug aus Indochina und die Hoffnung auf einen „ehrenhaften Abgang“ der Generäle, Politiker und Bankiers, deren Sorge der Gesichtswahrung und den Geschäften gilt, weniger jedoch den Soldaten, viele von ihnen Fremdenlegionäre oder aus Nordafrika.

Die Niederlage der Franzosen 1954 in Indochina war der Anfang vom Ende des Kolonialregimes. Während die Franzosen das Land verließen und in Algerien weiter um ihre koloniale Vormacht kämpften, setzten die Amerikaner den Krieg im heutigen Vietnam fort. Heute noch ist der Blick auf das Kolonialregime ein Politikum. Vuillard erzählt die Geschichten hinter der Geschichte, schmückt historische Tatsachen mit persönlichen, oft lapidaren Details aus. Etwa, wenn Edouard Herriot, Präsident der Nationalversammlung, darüber räsoniert, wie ausgeschlossen es doch sei, Kolonialvölkern gleiche Rechte zuzugestehen – und dabei an sein Schokoladen-Eclair denkt.

Geschichte ist natürlich immer auch eine Frage der Perspektive. Diesfalls eine linke, wie manche Kritiker monierten. Keine Frage der Perspektive ist, dass die Firma Michelin im Jahr der „Selbstmordepidemie“ ein Rekordergebnis von 93 Millionen Franc vermeldete.

Hoffnung auf Ehre? Lachhaft

Éric Vuillard: „Ein ehrenhafter Abgang“. Übersetzt von Nicola Denis. Matthes & Seitz. 140 Seiten. 20 Euro   

KURIER-Wertung: 4 1/2 von 5 Sternen