Ali Smith: Frei oder unfrei, fast dasselbe

Gerade hat sich Sandy mit dem Hund ihres Vaters, der jetzt, während des Lockdowns, im Krankenhaus liegt, angefreundet. Hat gelernt, dem älteren, leicht arthritischen Tier zuzuhören. Wenn sie Politiker im Fernsehen sieht, wird sie zornig und dann fragt sie den Hund (er heißt Shep, bereits der fünfte Shep des Vaters), ob es so etwas wie das Böse gibt, und Shep sieht sie an und sagt: Oh ja.
Sandy, Mitte fünfzig, ist Künstlerin. Shep ist nunmehr ihr Gefährte, außer ihm braucht sie bloß noch Bücher zum Leben. Hund und Mensch sind zufrieden miteinander. Bis plötzlich dieser merkwürdige Anruf den Frieden der beiden stört.
Eine ehemalige College-Kameradin, Martina, eigentlich eine sehr lose Bekannte, ruft an, um Sandy eine seltsame Geschichte zu erzählen. Als Museumsmitarbeiterin habe sie unlängst eine mittelalterliche Truhe auf eine Auslandsreise begleitet. Bei der Grenzkontrolle seien die Dinge aus dem Ruder gelaufen. Man habe sie ohne Pass und Handy in einen Raum gesperrt.

Ali Smith:
„Gefährten“
Übersetzt von Silvia Morawetz
Luchterhand.
256 Seiten.
24,70 Euro
KURIER-Wertung:
4 1/2 von 5 Sternen
Traum oder Wirklichkeit
Von da an ist nicht mehr klar, ob es um Traum oder Wirklichkeit geht. Die junge Frau, die einst das kunstvolle, mit Efeublättern verzierte mittelalterliche Truhen-Schloss geschmiedet hat, drängt sich immer mehr in Sandys Gegenwart, ebenso wie Studienkollegin Martina, deren Kinder eines Tages bei Sandy auftauchen und ihr Haus okkupieren. Es wird etwas unübersichtlich. Und stellenweise ziemlich komisch, weil die Kids so dermaßen unverschämt und aufdringlich, obendrein Covid-Leugner und Maskengegner sind, dass man nur darüber lachen kann. Was die ganze Mischpoche eigentlich von Sandy will? Nun, Sandy war immer schon gut mit Worten. Half der untalentierten Kommilitonin Martina einst beim Gedichte-Interpretieren und soll auch jetzt ein verworrenes Sprachrätsel lösen, das Martina auf ihrer Odyssee mit der mittelalterlichen Truhe erlebt haben will. Eine Stimme habe ihr ein Wort zugeflüstert, sie ist nicht sicher, ob es „Curfew“ (Ausgangssperre) oder „Curlew“ (Brachvogel) war, auf Englisch ein Wortspiel, das auf Deutsch nicht funktioniert. Man versteht trotzdem: Nur ein ausgetauschter Buchstabe, und schon ist alles anders – gefangen oder frei wie ein Vogel.
Die gebürtige Schottin Ali Smith, die 2022 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde, hat mit „Gefährten“ ein seltsam schönes, wenngleich nicht ganz offensichtliches Buch geschrieben. Es ist zugleich geheimnisvolles Sprachrätsel, mittelalterliches Schauermärchen und unterhaltsame Polit- und Gesellschaftskritik (die Politik bringt sie in Rage, die woken Kids ihrer Studienfreundin bringen sie zum Lachen). Und wer will, kann auch darin philosophieren, wie nah beieinander die Ideen von Freiheit und Gefangenschaft sind.
Vielleicht aber will Ali Smiths Protagonistin Sandy, gemeinsam mit dem arthritischen Hund, bloß ihre Ruh’ haben. Man verstünde sie.