A. L. Kennedy: Der Feind in meinem Bett

Kitsch kann man A. L. Kennedy nicht vorwerfen. Auch nicht, dass sie ihren Lesern Honig ums Maul schmiert. „Wann genau Sie dies lesen, lässt sich nur vermuten. Ich denke aber, ich kann davon ausgehen, dass vieles entsetzlich sein wird und entsetzlich bleiben oder danach gar noch entsetzlicher werden wird. Angenehmere Umstände werden vielleicht nicht wieder eintreten, weil wir als Spezies einfach nicht überzeugen.“
Typisch A. L. Kennedy. Bissig, ironisch, zart traurig-nihilistisch. Auch im neuen Roman setzt die Schottin keine rosarote Brille auf. Dass Kennedy, die nicht nur Romane und Kinderbücher schreibt und kreatives Schreiben lehrt, auch als Stand-up-Comedian auftritt, merkt man all ihren Büchern an. Ihr Ton ist unverwechselbar. Lakonisch, komisch, analytisch. Niemals herzlos.

A. L. Kennedy: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land.“
Hanser. 462 Seiten. 28,80 Euro
Im neuen Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ (schon der Titel geht durch Mark und Bein – die Übersetzer Ingo Herzke und Susanne Höbel haben großartige Arbeit geleistet!) lotet sie die Grenzen von Gut und Böse aus. Anna, laut Sohn Paul etwas exzentrisch (er hat recht), unterrichtet an einer Londoner Schule tendenziell wohlstandsverwahrloste Zehnjährige. Die Arbeit mit den Kids ist mehr als ein Job. „Ich bin einer der Menschen, die ihre Gesellschaft gleich von Anfang am Laufen halten und dafür zu sorgen versuchen, dass sie nicht aus lauter kaputten Menschen besteht.“
Wie es weitergehen soll mit dieser Welt, das war ihr immer ein Anliegen. In ihrer Jugend hat Anna in Edinburgh mit Straßenkünstlern gegen die englische Kriegs- und Sozialpolitik demonstriert. Mit Folgen. Die Demos liefen aus dem Ruder, es gab Verletzte. Unter den Aktivisten befand sich Buster, ein Polizeispitzel, der die Gruppe verraten und vor Gericht gebracht hat. Buster war Annas Geliebter. Eine neuerliche Begegnung mit dem Verräter reißt alte Wunden auf.
In Rückblenden wird nun Annas Geschichte, aber auch die von Buster erzählt. Diese Vielstimmigkeit (zum Teil in Form eines wütenden Corona-Tagebuches) ist zunächst verwirrend. Bald aber versteht man, dass es hier um den schmalen Grat zwischen Richtig und Falsch geht. Und vielleicht auch darum, dass alle „wirklich schrecklichen Situationen gelegentlich auch witzig“ sind. (Etwa die hier enthaltene sozialkritische, sehr schräge Nacherzählung von Rumpelstilzchen.)
A. L. Kennedy, 1965 im schottischen Dundee geboren, wurde mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
Sie publiziert oft regierungskritische Texte in englischen und deutschsprachigen Zeitungen, kritisiert den Brexit und die britischen Behörden. Vehement auch im vorliegenden Roman, dessen deutsche Ausgabe eine Weltpremiere ist. Das Original „Alive in a merciful country“ hat noch keinen englischen Verlag gefunden. Bedauerlich, denn dieses Buch ist, wenngleich stellenweise spröde, ergreifend lebensklug und abgründig. Plus, es beinhaltet ein Scones-Rezept.