Wir dachten damals, die Vergangenheit der Elterngeneration, das Dritte Reich und seine Verbrechen, seien wirklich vergangen. Wir dachten, Antisemitismus sei ein für alle Mal erledigt. Jetzt müssen wir erfahren, dass das die ganze Zeit geschwelt hat und es nur eines Ereignisses im Vorderen Orient bedurfte, um wieder auszubrechen.
Wie konnte das passieren?
Die Rückkehr des Antisemitismus ist eine von vielen Rückkehren. Auch der Nationalismus ist zurückgekehrt. Auch von ihm dachten wir, er wäre überwunden, wir lebten Europa. Aber er ist zurück, in hässlicher rechter Gestalt, es gibt auch wieder die Sehnsucht nach dem Autoritären, und beides und der Antisemitismus verstärken einander. Offensichtlich sind das Dinge, die wie Viren schlummern können, aber immer vorhanden sind. Es braucht nur Stress, und sie werden aktiv. Uns war nicht klar, dass die Viren immer gefährlich sind, wir sie immer einzäunen und immer bekämpfen müssen.
Jahrelang glaubte man, man könne das mit Bildung in den Griff bekommen.
Wir haben zu wenig getan.
Wo ist der Ausweg?
Die Deutlichkeit, mit der alle Parteien links von der AfD und ebenso die Zeitungen und öffentlichrechtlichen Medien gegen den Antisemitismus auftreten, sind ein Lichtblick. Allerdings informieren sich viele Menschen anders. Es gibt große Probleme in Schulen, besonders in solchen mit hohem Migrantenanteil. Auch an Universitäten und im kulturellen Bereich gibt es Äußerungen und Vorkommnisse, die unfassbar sind.
Sie sind Richter, haben auch nach dem Welterfolg des „Vorlesers“, bei dem Sie bereits über 50 waren, als Jurist weitergearbeitet. War das ein Grund, warum Sie diesen enormen Erfolg so gut verkraftet haben?
Wenn einem ein solcher Erfolg mit 25 und dem ersten Roman gelingt, kann er das Leben gehörig umkrempeln. Ich hatte damals bereits ein volles Leben. Der Erfolg konnte es nicht mehr grundlegend verändern, er kam als Geschenk dazu.
Warum werden so viele Juristen erfolgreiche Schriftsteller? Haben diese Berufe etwas gemeinsam?
Es gibt neben einer liederlichen juristischen Gebrauchssprache wunderschöne rechtswissenschaftliche Prosa. Es gibt große Juristen, die wirklich gut geschrieben haben.
Einem Gedanken im Schreiben Gestalt zu geben, kann ebenso beglückend sein, wie einer Geschichte im Schreiben Gestalt zu geben. Und ich habe mit Kriminalromanen angefangen, bei denen es gilt, das Problem zuerst zu entwickeln und dann zu lösen – das muss man als Jurist auch.
Auch der österreichische Bundespräsident schwärmt von rechtswissenschaftlicher Prosa, nämlich der Schönheit unserer Verfassung, geschrieben von Hans Kelsen. Das ist beinahe ein geflügeltes Wort geworden.
Kelsen war ein großer Verfassungsrechtler und Stilist der Nüchternheit und Klarheit.
Kommt Ihre Art, die Dinge differenziert zu sehen von Ihrem Beruf als Richter, oder sind Sie Richter geworden, weil Sie Dinge nicht einseitig sehen wollen?
Weder den rechtlichen noch den menschlichen Problemen wird eine einseitige Betrachtung gerecht.
Im Film „Anatomie eines Falls“, der derzeit im Kino zu sehen ist, gibt es eine Szene, in der der Staatsanwalt einen Auszug aus einem Roman der Angeklagten vorliest. Und zwar eine Textstelle, in der die Autorin den Gedanken äußert, ihren Mann umbringen zu wollen. Ist so etwas denkbar?
Ja. Der Staatsanwalt demonstriert damit, dass der Angeklagten ein Mord einer Frau an ihrem Mann nicht schlechterdings unvorstellbar ist. Aber natürlich kann und soll es nicht beweisen, dass die Angeklagte ihren Mann ermordet hat.
Wollten Sie immer schon schreiben?
Als Kind habe ich Geschichten über meine Stofftiere geschrieben. Als ich das erste Mal unglücklich verliebt war, habe ich begonnen, Gedichte zu schreiben. Schlechte Gedichte, dann Stücke, die nie aufgeführt wurden, und Geschichten, die niemand las. Ich habe immer gerne geschrieben, später sowohl meine literarischen als auch meine rechtswissenschaftlichen Sachen.
Ihren Beruf als Jurist haben Sie auch immer gerne ausgeübt?
Es geht mir um das Recht, und ich bin froh, dass beides, das Recht und das Schreiben, in meinen Leben Platz fand und findet.
In Ihrem neuen Roman „Das späte Leben“ geht es um einen Mann, der unheilbar krank ist. Wie halten Sie es mit dem Thema Sterbehilfe?
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat eine kluge Entscheidung getroffen. Es hat das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und auf Hilfe dabei anerkannt und den Staat verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Selbstbestimmung nicht durch unzureichende Informationen beeinträchtigt wird, unter Druck gerät oder in einer Krise nicht gelingt.
Arbeiten Sie schon am nächsten Roman?
Nach einem Roman oder einer Sammlung von Geschichten stehen erst einmal kleinere wissenschaftliche oder essayistische Sachen an, die liegen bleiben mussten.
Was haben Sie zuletzt gelesen?
„Das dritte Licht“ von Claire Keegan, ein wunderbares Buch über ein kleines Mädchen, das sich findet und behauptet – übrigens unter dem Titel „The Quiet Girl“ im letzten Jahr wunderbar verfilmt.