Interview mit dem norwegischen Regisseur Dag Johan Haugerud, der mit seiner hinreißenden Coming-of-Age-Geschichte „Oslo-Stories: Träume“ den Goldenen Bären gewonnen hat.
Der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud galt lange als Geheimtipp. Seit er jedoch auf der Berlinale den Goldenen Bären für „Oslo-Stories: Träume“ (derzeit im Kino) bekam, hat sich sein Talent für einfühlsames Filmemachen herumgesprochen. „Oslo-Stories: Träume“ ist Teil einer Trilogie, die in jedem Land in einer anderen Reihenfolge gezeigt wird, erzählt Dag Johan Haugerud im KURIER-Gespräch und kichert: „Die ursprüngliche Abfolge der drei Filme war gedacht als: ,Oslo-Stories: Träume‘, ,Liebe’, ,Sex‘ – aber es ist letztlich egal. Die einzelnen Teile waren immer als eigenständige Filme konzipiert.“
In Österreich lief „Oslo-Stories: Liebe“ bereits in den Kinos, derzeit ist „Oslo-Stories: Träume“ zu sehen, während „Oslo-Stories: Sehnsucht“ am 22. Mai startet.
Alle drei Arbeiten erzählen von unterschiedlichen Variationen menschlicher Begegnungen und Beziehungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in Oslo spielen und die Stadt und ihre Topografie eine Hauptrolle übernimmt. In „Oslo-Stories: Träume“ erzählt der 60-jährige Regisseur von einer 16-jährigen Schülerin namens Johanne, die sich unvermutet in ihre neue Lehrerin verliebt. Deren auffallend schönen Strickpullover werden für Johanne zum Inbegriff der Sinnlichkeit – und sie beschließt, bei ihr Strickstunden zu nehmen.
"Ich liebe es, Wolle zu fotografieren“, sagt Dag John Haugerud. Die Idee zu der Geschichte nahm für ihn ihren Anfang mit der jungen Hauptdarstellerin Ella Øverbye, mit der er erstmals drehte, als sie noch ein elfjähriges Mädchen war. Ihn hätte interessiert, wie ihre Lebensgeschichte als 16-Jährige weitergehen könnte, so der Regisseur. Und schließlich habe er sich an seine eigene erste große Liebe und die damit verbundenen Gefühlsaufwallungen erinnert.
„Eigentlich mag ich ja Coming-of-Age-Filme nicht sonderlich, weil ich schon so viele gesehen habe“, gibt Haugerud in seiner unvergleichlich bescheidenen und einnehmenden Art zu: „Aber ich glaube, Filme über das Erwachsenwerden sind deswegen beim Publikum so beliebt, weil sie etwas Universelles erzählen. Und wenn man selbst schon älter ist, vermisst man manchmal dieses Gefühl, jung zu sein. Man bereut vielleicht auch Dinge, die man in seiner Jugend verpasst hat.“
So geht es der Großmutter von Johanne. Die Enkelin hat ihre rauschhafte, aber auch schmerzliche Erfahrung jugendlicher Leidenschaft in ihren Aufzeichnungen festgehalten und zuerst ihrer Großmutter und dann ihrer Mutter zu lesen gegeben. Die intime Lektüre löst bei den beiden älteren Frauen gemischte Gefühle aus. Während die Großmutter mit Bedauern auf ihr eigenes Liebesleben zurückblickt, fragt sich die Mutter, ob sie das Protokoll eines Missbrauchs ihrer Tochter durch die Lehrerin vor sich liegen hat: „Ich finde, in unserer heutigen Gesellschaft ist es ihre Pflicht als Mutter, zuerst besorgt zu reagieren. Alles andere würde man ihr als Vernachlässigung auslegen.“
Dag Johan Haugerud: „Wenn man selbst schon älter ist, vermisst man manchmal dieses Gefühl, jung zu sein.“
Aber Dag Johan Haugerud ist nicht umsonst gelernter Bibliothekar und aktiver Schriftsteller: Für ihn ist Lesen und Literatur ein Schlüssel zum Weltverständnis.
Schlüssel zur Welt
Der Umstand, dass sowohl die Mutter als auch die Großmutter von Johannes schmerzhafter Liebe über den „Umweg“ der Literatur erfahren, lässt ihre Reaktion darauf nuancierter werden: „Wenn ich ein Kind hätte, dass mir von seiner ersten Liebe erzählt, würde ich sehr spontan reagieren. Wenn ich über diese Erfahrung aber lese, hätte ich mehr Zeit, darüber nachzudenken – und meine Reaktion darauf wäre sehr verschieden.“ Umgekehrt würde man, wie Johanne, beim Schreiben sein eigenes Leben in gewisser weise konstruieren – und das sei eine gute Sache, meint Haugerud: „Ich meine damit nicht, dass man etwas erfindet, sondern dass man sich selbst besser versteht.“
Aber natürlich wolle er „Oslo-Stories: Träume“ auch als eine Hommage an die Literatur verstanden wissen, denn: „Die Leute lesen viel weniger als früher, und ich glaube, dass sie wirklich etwas verpassen. Wenn man vor einem Buch sitzt, lernt man eine Menge über das Leben. Und man bekommt andere Perspektiven.“
Mutter, Tochter, Großmutter: Drei Generationen lesen und schreibe in "Oslo-Stories: Träume" über die erste große Liebe
Apropos Perspektive: Als Mutter und Großmutter Johanne vorschlagen, doch ihre Aufzeichnungen als Buch zu veröffentlichen, weil es eine interessante „Geschichte über queeres Erwachen“ sei, will sich Johanne nicht auf die Zuschreibung queer festlegen lassen. „Das war mir wichtig“, betont Dag Johan Haugerud: „Natürlich ist es eine queere Coming-of-Age-Geschichte, aber ich wolle es nicht zum Thema machen. Bei Johannes erster Liebe geht es zuerst einmal um Gefühle und nicht um Fragen der Identität.“
Auch sein nächstes Filmprojekt hat er schon in petto: Es soll um Liebe und Sexualität bei älteren Menschen gehen, inspiriert durch Gespräche mit der Schauspielerin, die Johannes Großmutter verkörpert: „Was sie über Liebe und Sex im Alter erzählte, habe ich sehr interessant gefunden“, sagt Dag Johan Haugerud: „Besonders deswegen, weil üblicherweise im Film nur junge und schöne Menschen Sex haben dürfen.“
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