Irgendwann aber blätterte Jenkins dann doch durch das Skript von „Mufasa: König der Löwen“, in dem die Vorgeschichte zu „König der Löwen“ und der Werdegang von Simbas Vater Mufasa in Rückblenden rekapituliert wird. Erzähler dieser Origin-Geschichte ist der weise Mandrill Rafiki, seine Zuhörerin ist Kiara, die kleine Tochter von Simba und Nala. Dazu gesellen sich die beiden beliebten Spaßvögel Erdmännchen Timon und Warzenschwein Pumbaa, deren launige Kommentare für lustige Entspannung sorgen, wenn das schwergewichtige Abenteuer rund um Mufasa einmal Pause braucht.
Barry Jenkins jedenfalls war von der Story restlosbegeistert: „Es hat mich umgeworfen, mit welcher Komplexität die Figuren konzipiert sind. Damit hatte ich nicht gerechnet“, schwärmt „Mr. Moonlight“: „Da dachte ich mir: Wäre es nicht toll, die neuesten Technologien, die die digitale Animation zu bieten hat, mit dieser Geschichte zu verbinden?“
Babysitter
Disneys Animationsklassiker „Der König der Löwen“ von 1994 ist in der DNA des popkulturellen Bewusstseins tief verankert. So auch bei Barry Jenkins: „Ich habe ,König der Löwen’ entdeckt, als ich der Babysitter meiner Neffen war – damals in den 1990er-Jahren. Ich habe jene VHS-Kassette hervorgekramt, die die beiden möglichst lange beschäftigen konnte. So stießen wir auf den ,König der Löwen’.“ Besonders beeindruckend fand Jenkins die Beobachtung, wie seine Neffen mit den tragischen Tönen des Films – dem Tod von Simbas Vater Mufasa – umgingen: „Sie haben sich mit der Erfahrung auseinandergesetzt, wie es sein könnte, einen Elternteil zu verlieren. Und sie konnten diese schwierigen Gefühle in einer sicheren Umgebung verarbeiten. Ich fand das sehr beeindruckend. Mein Ziel war es, dass mein Film an die Vielschichtigkeit der Gefühle, die im Original verhandelt werden, anschließen kann.“
Lebensretter
Mufasa und Taka – Letzterer später bekannt als Bösewicht und Königsmörder Scar – waren nicht immer verfeindet, im Gegenteil. Nach einer dramatischen Sturmflut wird der kleine Mufasa von seinen Eltern getrennt und von einem Fluss weggerissen. Es ist der ebenfalls noch kleine Taka, der den fremden Junglöwen rettet – gegen den Willen seines königlichen Vaters, der nichts mit dahergelaufenen Streunern zu tun haben will. Die beiden werden „Wahl-Brüder“. Taka wird von seinem herrischen Königsvater erzogen, während Takas Mutter Mufasa unter ihre Fittiche nimmt: „Das hat mich ebenfalls unglaublich fasziniert“, so Jenkins: „Mit welcher Nuancierung erzählt wird, wie sich Taka in die schlechteste Version seiner selbst verwandelt und Mufasa in die beste Version.“
Während die Löwin ihrem Ziehsohn beibringt, mit der Natur in Einklang zu leben und alle anderen Lebewesen zu respektieren, lehrt der grantige König seinen Sohn royale Überheblichkeit: „Da haben wir gleich eine Lektion fürs Leben“, freut sich Jenkins: „Obwohl beide Kinder in derselben Familie aufwachsen, erhalten sie doch völlig unterschiedliche Prägungen. Da sieht man gleich, wie wichtig Zuneigung und Herzensbildung ist.“
Handschrift
Die Sorge, dass er im Getöse eines riesigen Studio-Blockbusters seine persönliche Note als Regisseur verloren haben könnte, hat Barry Jenkins nicht: „Der Film trägt meine Handschrift“, ist er überzeugt. Aufmerksame Stilisten haben sogleich die typisch fluiden, langen Kameraeinstellungen von Jenkins wieder erkannt. Tatsächlich kursierten Gerüchte, wonach das Disney-Studio seine Sorge ausdrückte, einzelne Kamerafahrten seien zu langsam. Ändern musst Jenkins aber nichts. Auch inhaltlich habe er keine Kompromisse machen müssen. Als Beispiel führt er jene Szene an, in der Taka in einer gefährlichen Situation ängstlich davon läuft. Er erzählt seinem Vater davon, doch dieser bleibt ungerührt. Anstelle zu sagen: „Es ist okay, dass du Angst hattest“ – wie man es vielleicht in einem Disney-Film vermuten würde– , verbietet der Altlöwe wenig pädagogisch dem Sohn, seine Angst zuzugeben. Stattdessen lautet sein Erziehungscredo: „Betrug ist das Mittel zur Macht.“
„So eine Szene ist genauso subtil und vielschichtig wie eine Szene in ,Moonlight’ oder ,Beale Street’“, findet Jenkins: „Mit dem Unterschied, dass sie hier in einem epischen Zusammenhang stattfindet. Und dass hoffentlich sehr viele Kinder solche Szenen sehen werden. Sie können dabei zuschauen, wie sich zwei Löwenkinder weiter entwickeln: Einer von ihnen wird der beste Vater der Filmgeschichte, der andere der meist gehasste Bösewicht. Für mich fühlt sich das sehr profund an. Insofern bringe ich einem Projekt wie ,Mufasa’ die gleiche Ernsthaftigkeit entgegen wie meinen Arthouse-Filmen.“
Und wenn wir schon dabei sind: Interviewaussagen von Barry Jenkins, in denen er nach Abschluss der vierjährigen Dreharbeiten mit Sätzen wie „Das war nicht so mein Ding“ zitiert wurde, weist er zurück: „Ich habe damit gemeint, dass das ausschließlich digitale Filmemachen nicht mein Ding sei“, räumt er ein: „Aber mit der neuen Technologie, mithilfe derer wie analog und digital arbeiten konnten, ist das nicht der Fall. Ich würde den Film sofort wieder machen. Und wäre beim zweiten Mal auch viel schneller.“
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