Konkrete Hinweise gibt es zwar nicht: Im Programmheft bedankt sich die Tiroler Dramatikerin, 1995 geboren, nur für die ihr anvertraute Geschichte, der sie gerecht zu werden versucht hat. Aber Parallelen im Stück lassen die Assoziation zum Stephaneum zumindest zu.
Die meisten Szenen spielen 1988 auf dem Hof der Maringers: Johannes malt im Heuschober wie ein Besessener abstrakte, azurblaue Bilder. Zusammen mit Gerold, seinem Freund, träumt er davon, nach der bevorstehenden Matura und dem Zivildienst nach Wien zu gehen.
Bespielte Cassette
Das Team rund um Regisseur David Bösch, der im März 2022 „Adern“, den Erstling von Lisa Wentz, zur Uraufführung gebracht hat, skizziert jenes Jahr mit viel Liebe zum Detail. Kostümbildnerin Moana Stemberger verpasste Alexander Absenger als Hannes einen Vokuhila und eine Jacke in Petrol, der damaligen Modefarbe. Sein Freund (Oliver Rosskopf) schenkt ihm eine bespielte Cassette – unter anderem mit Songs von Duran Duran, A-ha, Tanita Tikaram und The Smiths. Sie erklingen aus dem Ghettoblaster, aus dem Radio in der Küche – und als getragene, düstere Coverversionen von Karsten Riedel aus dem Off.
Währenddessen rotiert das schematische Haus, das Patrick Bannwart nur unwesentlich komplexer als jenes für „Adern“ (aber mit Dachboden) gezimmert hat, auf der nebelverhangenen Drehbühne: Bösch markiert die Zäsuren zwischen den Zeitebenen und den Traumsequenzen mehr als deutlich.
Urne ohne Asche
Eine zentrale Szene spielt 2001: Johannes dürfte sich das Leben genommen haben, im Fluss ertrunken sein. Er ist jedenfalls verschwunden – und bleibt es: Ein Jahrzehnt später lässt die Familie ihn für tot erklären. Zur Trauerfeier mit der Urne ohne Asche treffen alle wieder in der schäbigen Wohnküche zusammen. Auch Gerold taucht auf. Journalist geworden, übergibt er ein Dossier mit all den Fakten, die er über den Missbrauch in der Schule beziehungsweise an seinem Freund zusammengetragen hat.
David Bösch griff ein wenig ordnend in den hin- und herspringenden Text ein. Und er arbeitet das Unvermögen, sich zu artikulieren, brutal heraus. In der Stille zwischen den zumeist sehr kurzen Sätzen liegt wie Blei das Unaussprechliche.
Trotz der Vorkommnisse, die sich längst auf das gesamte Familiengefüge ausgewirkt haben, gibt es ein paar heitere Momente. Dafür sorgt zum Beispiel Michael König als Großvater, der auch ohne Kostümwechsel in der Sekunde von 1988 auf 2011 zu altern versteht. Oder Ulli Maier als strenggläubige Mutter, die schon früh ihren Mann verloren hat und mit den Moden nicht mitkommt. „Warum tut ma denn Spinat in a Lasagne?“, fragt sie fassungslos. Aber auch Lisa Wentz sorgt dafür, dass man nach eindreiviertel Stunden der Andeutungen über die Taten des Religionslehrers – „Es hat mal jemand gesagt, dass ich sehr talentiert sei“ – nicht allzu deprimiert das Theater verlässt: Sie wendet die „Pulp Fiction“-Dramaturgie an – und endet mit einem fast hoffnungsfrohen Schluss.
Farbe und Färbungen
Einziger Schwachpunkt der subtilen wie packenden Inszenierung (samt sparsam eingesetzten, eindringlichen Videoprojektionen auf die Rückwand des Hauses) ist der Umgang mit dem Tiroler Kunstdialekt von Lisa Wentz. Denn fast jeder spricht so, wie er denkt, dass es authentisch wirken könnte. Da prallen diverse österreichische Färbungen hart aufeinander. Und Juliette Larat als Tochter von Johannes muss sich ordentlich mit ihren Sätzen abmühen. Sie überzeugt dennoch als widerspenstige Jugendliche.
Ihr Vater drückt seine Wut und Verzweiflung nicht so sehr über das Malen aus: Alexander Absenger knallt unentwegt Spritzer auf die Leinwände aus Papier, in einer Szene übergießt er sich mit Farbe. Martina Ebm als einfühlsame, verantwortungsbewusste Karla versteht ihren Johannes auch ohne Reden. Katharina Klar verwandelt sich unterdessen von einem 80er-Jahr-Platinblondschopf in eine intellektuelle Fotografin. Und mit nur einem Auftritt bringt Günter Franzmeier als eiskalter Entscheidungsträger die Doppelmoral auf den Punkt. Er wollte für seinen Sohn die beste Ausbildung. Und er sei ja wer, rechtfertigt er sich gegenüber Geri. „Niemand hätt sich traut dich angreifen.“ Was kümmert einen dann das Gerede?
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