„Der Westen schafft sich ab“

Es ist ein Buch, das in unseren Zeiten eigentlich zur Pflichtlektüre zählen sollte: Gustav Gustenau, Brigadier a. D., und der deutsche Politikwissenschaftler Florian Hartleb haben einen Band über den „Antisemitismus auf dem Vormarsch“ und dessen unterschiedliche Ausprägungen herausgegeben.
Die beiden arbeiten am in Wien ansässigen Europäischen Institut für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention (EICTP), welches auch diese Publikation initiiert hat.
Ausdrücklich bezieht sich das Buch auf den beispiellosen Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 als Ausgangspunkt und Zäsur. Deutlich wird hier herausgearbeitet, dass entgegen dem gängigen Narrativ Antisemitismus keineswegs nur ein Phänomen am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums darstellt.
Den Auftakt bildet ein ursprünglich in der NZZ erschienener Beitrag des deutsch-israelischen Historikers Michael Wolffsohn. Er benennt den sogenannten „Postkolonialismus“ als „Heilslehre der Israel- und Judenhasser“. In deren Sicht gelte der jüdische Staat als „Produkt, Folge und Speerspitze des nur angeblich beendeten, natürlich westlichen, Kolonialismus“. Wobei dieser Hass keineswegs nur die Juden bzw. Israel betrifft: „Der Westen geht nicht unter, aber er schafft sich ab“, konstatiert Wolffsohn.
Einen weiten historischen Bogen spannen die Herausgeber: von Cicero, der bereits vom „Odium des jüdischen Goldes“ sprach, über die Unterdrückung und blutige Verfolgung von Juden im christlichen Europa, den Holocaust bis hin zu jüngsten Entwicklungen. Als „Vektoren des neuen Antisemitismus“ nennen die Autoren: „Holocaust-Leugnung, der Antisemitismus der extremen Linken, Antisemitismus in der islamischen Welt, Antizionismus als Antisemitismus, sogar Antirassismus als Antisemitismus“.
Muslime in der Pflicht
Direkt an den 7. Oktober knüpft die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz mit ihrem Beitrag an. Sie vermisst kritische Selbstreflexion in den muslimischen Communitys: „Die deutschen und österreichischen Islamverbände leugnen in der Regel einen Zusammenhang zwischen Islam und Judenfeindschaft.“ Dabei gebe es durchaus eine genuin islamische Judenfeindschaft, analog zu einer im christlichen Kontext entstandenen. Anders als diese harrt indes jene nach wie vor einer historisch-kritischen Aufarbeitung.
Es ist das Verdienst dieser Publikation, die Frontlinien in den einschlägigen Debatten nachzuzeichnen, einzuordnen und verstehbar zu machen.

Gustav Gustenau, Florian Hartleb (Hg.): „Antisemitismus auf dem Vormarsch“, Nomos, 272 S., 64 Euro
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