Masse und Macht
Der deutsche Großkünstler, der vor Kurzem seinen 80. Geburtstag feierte, weiß, dass Masse nicht nur Gravitation, sondern auch „Gravitas“ erzeugen kann, eine intellektuelle Schwere und Ernsthaftigkeit. Diesem Rezept folgend arbeitet Kiefer also mit Blei, Erde und riesigen Bildformaten, die beflissenen Erläuterungen gibt’s als Draufgabe dazu – denn die Kunstliteratur und die Kuratorenschaft verbiegt sich unter dem Sog des Kieferschen Oeuvres, kaum ein Text erscheint, der nicht im Ton der Huldigung verfasst ist.
Es ist diese Überwältigungsstrategie, die Ihren Rezensenten seit jeher mit Anselm Kiefer hadern lässt. Bei der großen Jubiläumsausstellung, die zwei Museen in Amsterdam dem Künstler nun ausrichten, wird sich der Zwiespalt von Ablehnung und Bewunderung wieder nicht auflösen: Denn während Kiefer sein langjähriges Vorbild van Gogh in dessen Amsterdamer Weihestätte regelrecht erdrückt, ist nebenan, im Stedelijk Museum, klarer zu verstehen und zu spüren, wie tief das Werk des 1945 in Donaueschingen geborenen Künstlers in Europas Weltkriegs-Trauma wurzelt – und wie es auch heute fruchtbar gemacht werden kann.
Auf Vincents Spuren
Van Gogh, dieser Prototyp des echten, visionären Künstlers, war ein geistiger Pate für Kiefer gewesen: 1963 unternahm der jugendliche Kunststudent, mit einem Stipendium ausgestattet, eine Reise, die ihn an die Lebensstationen van Goghs von Holland bis nach Südfrankreich führte. Die Zeichnungen aus jener Zeit – Weidenbäume, Felder, auch Porträts – sind mitunter fast Kopien von van Goghs Fassungen derselben Motive.
Dass sich Kiefers Landschaftsbilder auch später noch an dem Niederländer orientieren, indem sie etwa den Himmel an den Rand drängen und den Boden zum belebten Raum machen, ist in der Schau nachvollziehbar.
Erschütterungen
Wozu aber dann Kiefers megalomanische Formate, seine Materialschlachten und seine Symbolüberfrachtung? Der weniger netten Antwort – er ist einfach kein so guter Maler – muss man wohl entgegenhalten, dass der Künstler nicht wie van Gogh Seismograf seines Innenlebens ist, sondern von anderen Erschütterungen bewegt wird: Der Vergiftung deutscher Kultur durch die NS-Herrschaft, der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, dem Zivilisationsbruch des Holocaust.
Der zweite Teil der Amsterdamer Ausstellung im Stedelijk Museum erinnert daran, dass Kiefer seinen Ruf als „Künstler der Erinnerung“ zu Recht trägt. In dem Museum hängen Schlüsselwerke – etwa das Gemälde „Märkischer Sand“ von 1982, das verdeutlicht, wie der Künstler unter jedem deutschen Acker ein potenzielles Schlachtfeld vermutete, und „Innenraum“ (1982), das den Saal der von Albert Speer für Adolf Hitler erbauten Neuer Reichskanzlei wiedergibt.
Es sind Bilder, mit denen Kiefer einst in Wunden stocherte und mit Darstellungstabus brach: Dieser Widerstand brauchte wohl auch die Masse des Materials und die Wucht des Formats.
In der Folge grub sich der Künstler in immer tiefere Erinnerungsschichten vor – zu deutschen Mythen, alchemistischen Forschungen, der Kabbala-Geheimlehre. Im Stedelijk Museum steigt man nun aber zu einem Monumentalwerk empor, das auf einem vergleichsweise simplen Antikriegslied basiert.
Kiefers Beethovenfries
„Sag mir wo die Blumen sind“ ist für Kiefer das, was der „Beethovenfries“ für Gustav Klimt war: Ein auf den Raum abgestimmter Bildzyklus, der einem musikalischen Muster folgt. Aus vielen Tafeln zusammengesetzt und durch reale Objekte – Anzüge, Uniformen, üppig verstreute Rosenblätter – erweitert, vollzieht das Werk immer wieder den Weg vom Harmlosen zum Gravierenden: „Sag, wo die Soldaten sind / über Gräbern weht der Wind.“
Es ist ein monumentales Antikriegsbild, und es ist nicht schwer, von hier aus Bezüge zur Ukraine oder einem anderen Schauplatz herzustellen. Das Werk ist gleichermaßen universell wie aktuell – und natürlich überwältigend. Am Ende muss der Kiefer-Skeptiker wieder einmal die Waffen strecken.
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