"Wie ein Spiegelbild der Gesellschaft"

Ihr Reich ist die Küche – dort ist Val (Regina Casé) die Königin. Aber ihre Macht endet hinter dem Küchenfenster: Der Pool im Garten oder der Esstisch im Wohnzimmer sind für sie tabu. Aber die Haushälterin, die seit Jahren bei einer wohlhabenden Familie in einer größeren Abstellkammer lebt, ist nichts anderes gewohnt. Als eines Tages ihre Tochter Jéssica (Camila Márdila), die sie als kleines Mädchen bei einer Freundin zurückgelassen hat, nach São Paulo kommt, um die Aufnahmeprüfung an der Universität zu machen, gerät Vals Weltbild ins Wanken. Denn Jéssica ist nicht bereit, sich unterzuordnen. Die Regisseurin Anna Muylaert (51) kombiniert in ihrem Film „Der Sommer mit Mamã“ (seit 4. 9. im Kino), der bei der heurigen Berlinale mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, Sozialkritik mit Witz und Lebensfreude.
KURIER: Ist die Geschichte das Resultat gesellschaftlicher Beobachtungen oder beruht sie auf persönliche Erfahrungen?
Anna Muylaert: Beides. Als Kind hatte ich ein Kindermädchen, und ich verstand nicht, warum sie die ganze Zeit da war. Als ich dann selbst Mutter wurde, fühlte ich dieses intensive Gefühl der Liebe, und ich wollte mich unbedingt selbst um meinen Sohn kümmern. Damals wurde mir klar, was für eine noble Aufgabe es ist, Mutter zu sein. Gleichzeitig ist mir aber auch aufgefallen, wie wenig die Rolle der Mutter in
Brasilien wertgeschätzt wird.
Wie hat sich der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahre auf das Drehbuch ausgewirkt?
Während ich am Drehbuch gearbeitet habe, wählte Brasilien einen Präsidenten von der Arbeiterpartei und die Dinge begannen sich zu ändern. Diesen gesellschaftlichen Wandel wollte ich auch im Drehbuch widerspiegeln. Anstatt Jéssica – entsprechend der vorherrschenden Klischees – glücklos und sanftmütig darzustellen, gab ich ihr eine kraftvolle Persönlichkeit; machte sie stark genug, um sich gegen diese ausgrenzenden sozialen Regeln und den Rückfall in eine koloniale Vergangenheit zu wehren.
Die Hauptrollen werden von drei Frauen gespielt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nach welchen Kriterien haben sie die Rollen besetzt?
Ich arbeite gerne mit Schauspielern zusammen, die einen ausgeprägten Charakter haben, mich bei meiner Arbeit unterstützen und fordern. Regina Casé, von der ich schon immer ein großer Fan war, konnte ich als erste Schauspielerin für den Film gewinnen. Sie ist in das Projekt seit Anfang an involviert. Wir haben uns mehrmals vor Drehbeginn getroffen, ausgetauscht, diskutiert und das Skript umgeschrieben.
Im Film prallen Generationen aufeinander – ein
Brasilien der Vergangenheit und das
Brasilien von heute.
Der Film handelt von Frauen zweier Generationen aus bescheidenen Verhältnissen. Die Hauptfigur Val ist eine Hausangestellte, die alte Normen und Regeln respektiert. Selbst die Tatsache, wie ihre Tochter das bezeichnet, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein. Ihre Tochter Jéssica hingegen ist trotz ihrer schlechten Ausgangslage voller Neugier und Willenskraft, fordert ihre staatsbürgerlichen Rechte ein, oder wie sie sagt: „Ich halte mich nicht für etwas Besseres, aber auch nicht für schlechter als andere.“
Wie wird Ihr Film in
Brasilien aufgenommen?
In Brasilien ist „Sommer mit Mamã“ mehr als ein Film. Er funktioniert wie ein Spiegel der Gesellschaft und hat bereits einige Debatten ausgelöst.
Auch eine über das
Bildungssystem? Wie sieht es mit dem Zugang zu
Bildung aus?
Bis vor Kurzem waren zahlreiche Universitäten ausschließlich für die Oberschicht zugänglich. Diese Situation hat sich aber sukzessive verbessert. Aber noch immer sind der Zugang zu Bildung und die fehlende Chancengleichheit eines der größten Probleme in Brasilien.
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