Rosalías "Lux", Revolution mit heiligen Frauen

Rosalia mit langen dunklen Haaren trägt ein geflochtenes, cremefarbenes Kleid mit Fransen vor weißem Hintergrund.
Das epochemachende Album „Lux“ der spanischen Sängerin Rosalía ist von heiligen Frauen aus verschiedenen Religionen inspiriert. Warum macht sie das?

Es gibt Heiligengeschichten, da erblasst selbst Chuck Norris vor Neid. Nehmen wir Christina von Bolsena. Sie überlebte Prügel, in Brand setzen, Ertränken, erneutes in Brand setzen. Am Ende wurde ihr die Zunge abgeschnitten, was sie auch nicht zum Schweigen brachte. Die lose Zunge schmiss sie dem Richter ins Gesicht, woraufhin der erblindete.

Das Potenzial der Heiligen-Hagiografie hat die spanische Popsängerin Rosalía erkannt. In ihrem zu Recht von Kritik und Publikum gleichermaßen als bahnbrechend gefeiertem, Klassik und Pop furios fusionierendem neuen Album „Lux“ widmet sie sich mit jedem Song (15 in der Digitalversion, 18 in der physischen) einer als heilig verehrten Frau, Nonne oder Mystikerin. Und zwar aus mehreren Religionen. In 13 Sprachen.

Seine Wut ist meine Wut

Ihre Namenspatronin, Rosalia von Palermo, hat sie zu „Focu ’ranni“ inspiriert. Der Titel bedeutet „großes Feuer“ auf sizilianisch. Die Entdeckung des unverwesten, mit Rosenkranz gekrönten Leichnams der Eremitin soll in Palermo die Pest beendet haben. Im Fokus des Zartheit und Verfremdung verbindenden Lieds steht freilich, dass Santa Rosalia ihrer Hochzeit entflohen ist. Die Befreiung aus einer Beziehung, die nicht gut für einen ist, ist näher dran an den Lebensrealitäten des 21. Jahrhunderts.

Jener Song, in dem die Genialität des Albums kulminiert, „Berghain“, beschäftigt sich mit der deutschen Mystikerin Hildegard von Bingen. Nach wütendem Streicher-Intro und strengem Chor, der auf Deutsch „Seine Angst ist meine Angst, Seine Wut ist meine Wut, Seine Liebe ist meine Liebe, Sein Blut ist mein Blut“ rammsteinert, folgt Rosalía mit Opernstimme. Sie zitiert das Erleuchtungserlebnis der Hildegard, die berichtete, dass eine „feurige Flamme“ ihr Gehirn spirituell erleuchtete.

Aber nicht nur katholische Heilige sind das Unterfutter von „Lux“: „De Madrugá“ – klanglich eine Erinnerung an Rosalías Anfänge mit Flamenco-Erneuerung – basiert auf der in der orthodoxen Kirche verehrten Olga von Kiew. An ihr fasziniert Rosalía , dass sie eher unheilig Rache genommen hat an den Mördern ihres Mannes. „La Yugular“ ist beeinflusst von der islamischen „Mutter des Sufimus“, Rābi’a al-’Adawiyya. Der Titel bezieht sich auf das Koranzitat, nachdem Gott einem näher ist als die Halsvene. Auch die jüdische Prophetin Miriam und die buddhistische Poetin Vimalā sowie die japanische Nonne Ryōnen Gensō und die Tao-Meisterin Sun Bu’er – beide übrigens verstümmelten sich selbst – haben Auftritte.

Grat zur Blasphemie

Warum macht das eine Popkünstlerin im Jahr 2025? Das ist vielleicht für viele der größte Schreck dieses auf vielen Ebenen erschütternden Albums: Weil diese Geschichten Relevanz haben, Revolution bleiben. Weil Liebe, Hingabe, Leidenschaft, Kompromisslosigkeit, Erkenntnis, Außenseiterschaft mehr Facetten hat als etwa in einem Taylor-Swift-Song verhandelt wird. Weil der Nevenkitzel auf dem schmalen Grat zur Blasphemie Tradition hat, woran einen nicht nur Giovanni Lorenzo Berninis „Verzückung der heiligen Teresa“ immer wieder erinnert.

Mit „Lux“ ist Rosalía ein Werk gelungen, das intellektuell und emotionell erfasst werden kann. Dafür muss man können, was Rosalía als Gemeinsamkeit all ihrer Heiligen festhält: „Sie hatten keine Angst“.

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