Akademietheater: Unheil unter den Armen der Gottesmutter

„Verzweifeln Sie auch an Inflation und Geldnot?“ Im Wiener Akademietheater schreibt man das Jahr 1933, aber es könnte auch 2023 sein.
Wir sind zu Gast im österreichischen Wallfahrtsort Maria Blut. Die Eingeborenen tragen kurze Hosen und große, runde Kindsköpfe und schwer an ihrer Tratschsucht. Unter den Armen der Gottesmutter (Bühne: Jessica Rockstroh) macht sich langsam Unheil breit. Die Konservenfabrik ist in Konkurs und muss schließen. Die Einwohner investieren ihr letztes Geld in die Aktien einer dubiosen Unternehmung namens „Raumkraft“, von der niemand weiß, was sie eigentlich ist.
Christlichsoziale und Sozialdemokraten radikalisieren sich, und die ersten Nazis werden laut. Und da ist noch der Arzt, ein Roter, dessen Frau gestorben ist – oder hat er sie umgebracht?
1935 hat die jüdische Schriftstellerin Maria Lazar ihren expressionistischen Roman „Die Eingeborenen von Maria Blut“ im dänischen Exil fertiggestellt, eine Studie einer Gesellschaft am Rande des Abgrundes. Die Regisseurin Lucia Bihler – ihre Inszenierung von Thomas Bernhards „Die Jagdgesellschaft“ ist noch in bester Erinnerung – hat gemeinsam mit Alexander Kerlin diesen Roman dramatisiert und im Wiener Akademietheater auf die Bühne gebracht.
Drei Familien
Im Mittelpunkt stehen drei Familien. Da ist der Arzt Lohmann, der mit seiner tschechischen Haushälterin Toni ein Verhältnis hat und dennoch zu seiner Geliebten Alice nach Wien fährt, wenn er das Dorf nicht mehr erträgt. Er versucht, anständig zu bleiben, leidet unter der üblen Nachrede und wird Toni schließlich zur Abtreibung zwingen, während sich sein Sohn den Nazis zuwendet.
Da ist der jüdische Rechtsanwalt Meyer-Löw, der das Unheil kommen sieht, seinen kleinen Sohn nach England schickt und sich selber zu alt fühlt für die Flucht. Seine ungarische Haushälterin Marischka schimpft auf die „Gojim“ und hat als einzige den Mut, offen zu sprechen.
Und dann ist da der Wirt Heberger, der sein ganzes Geld verliert. Seine Tochter Notburga schleppt ihre Sorgen täglich zur Jungfrau Maria und zur Beichte und verfällt immer mehr dem religiösen Wahn.
Ihr Bruder Vinzenz – die vielleicht interessanteste Figur – ist geistig und körperlich zurückgeblieben, wird von den Dorfbewohnern verspottet, hält sich schließlich für den Führer und wird trotzdem zum Opfer (eine gelungene, bittere Pointe).
Skizzenhaft
Lucia Bihler inszeniert die Geschichte betont expressionistisch, in vielen kurzen Bildern, begleitet von unheilvollen Geräuschen und düsterer Musik, getrennt durch grelle Lichtblitze. Die Aufführung hat enorme Kraft, sie ist ein beeindruckendes Kunstwerk, jedoch macht es der reduzierte, skizzenhafte Erzählstil schwer, der Handlung zu folgen.
Philipp Hauß brilliert als verzweifelter Arzt, Dorothee Hartinger überzeugt als jiddisch sprechender, gebeugter Rechtsanwalt, Stefanie Dvorak ist ebenso gut als Toni und als Nazi-Prinzessin Reindl, Lili Winderlich ist großartig als Marischka. Jonas Hackmann liefert eine bemerkenswerte Menschenstudie ab als stotternder Nazi Vinzenz. Robert Reinagl spielt den Vater und den Pfarrer reduziert und stark.
Am Ende gibt es Jubel für eine bemerkenswerte, nicht leicht zu konsumierende Aufführung.
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