„Längst abgetan, nie überwunden“

Angelobung von Bundespr?§sident Renner
Der Historiker Kurt Bauer erzählt das Jahr 1945 anhand von sehr unterschiedlichen Einzelschicksalen und Alltagsgeschichten.

Es gibt verschiedene Arten, sich geschichtlichen Ereignissen zu nähern: von der polithistorischen Einordnung im großen Bogen bis zur anekdotischen Schilderung des Alltagslebens. Beide gehören zusammen: Auch Einzelschicksale erscheinen in anderem Licht, wenn man sie im Kontext des großen Ganzen betrachtet, andererseits lässt sich dieses besser verstehen, entsteht ein facettenreicheres Bild, wenn die vielfältigen biografischen Wendungen konkreter Menschen in den Blick kommen.

Und generell gilt, dass das Bild umso klarer wird, je größer der zeitliche Abstand geworden ist.

Immerhin achtzig Jahre sind nun seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur vergangen – und wie schon in den letzten Gedenkjahren gibt es eine Fülle an Publikationen und Veranstaltungen zu den verschiedenen Aspekten des Themas.

Der Historiker Kurt Bauer widmet sich „Österreich im Jahr 1945“, welches er als „Niemandsland zwischen Krieg und Frieden“ bezeichnet. Es ist, wie der renommierte Wissenschafter selbst schreibt, „kein wissenschaftliches Buch“.

Vier Jahreszeiten

Autobiografische Anmerkungen stehen am Beginn: Der Autor ist Jahrgang 1961, und dennoch ist ihm das Jahr ’45, welches er nur aus Erzählungen kennt, „unheimlich gegenwärtig“, „längst abgetan und nie überwunden“; ein Jahr, „von dem die Alten so oft, so viel, so eigentümlich gehemmt und erschreckend offen zugleich sprachen“.

Der Hauptteil des Buches gliedert sich in vier Kapitel – entsprechend den Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Im Anhang weist er seine Protagonisten aus, anhand deren Geschichten er durch das Schicksalsjahr führt (im Text selbst werden sie alle nur mit Vornamen genannt). Darunter sind prominente Namen wie etwa das ÖVP-Urgestein Karl Pisa (1924–2015) oder der legendäre, im biblischen Alter von 106 Jahren verstorbene langjährige Präsident der Salzburger Israelitischen Kultusgemeinde Marko Feingold (1913–2019); die meisten aber sind mehr oder weniger unbekannt.

Wie etwa die damals 16-jährige Gerti (Gertrud Maurer, geb. Hauer), die im April mit ihrer Mutter und ihrer neunjährigen Schwester „nach einer mühsamen Flucht aus Baden bei Wien“ in einem Innviertler Bauernhof Unterschlupf findet. Oder Josef Schöner (1904–1978), später Mitarbeiter der Außenminister Karl Gruber und Leopold Figl, dessen Frau im Oktober zu deren schwer kranker Mutter nach Kärnten kommen möchte und deren Wohnung zudem von den Briten beschlagnahmt wird.

Was sich durchzieht, ist ein Lebensgefühl, welches Adolfine Schumann (1916–1914) in einem Tagebucheintrag vom 25. April 1945 so beschreibt: „Alle unsere Kräfte sind aufs Überleben ausgerichtet. […] Schändungen, Deportationen, Verschleppungen, Denunziation sind an der Tagesordnung. […] Und der Krieg ist ja noch nicht aus, wir sind nur im Feindesland, oder besser gesagt: im Niemandsland.“

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Kurt Bauer: „Niemandsland zwischen Krieg und Frieden“, Residenz, 272 Seiten, 29,00 Euro

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