Vea Kaiser

Vea Kaisers Kolumne: Der Seitenzahlen-Schock

Warum man schleichende Veränderungen, die Kleines groß machen, leicht übersehen kann

Fast allen Romanen geht ein jahrelanger Entstehungsprozess voraus, der sich vor allem durch seine unspektakuläre Monotonie auszeichnet. Gewisse Momente unterbrechen leuchtend die Langeweile: besonders gute Einfälle, wenn man endlich den richtigen Titel hat oder das Manuskript nach dem Durchlesen nicht mehr verbrennen will.

Ganz besonders zauberhaft fand ich bisher, wenn der Kurierdienst an der Haustür läutet, um die Druckfahnen zu überreichen. Dieser Berg A4-Zettel zeigt den Text, wie er später im gebundenen Buch ausschauen wird. Erstmals sieht man, was die Leserin sehen wird, aber noch kann (und soll) man etwas ändern.

Bei meinen ersten drei Romanen war dieser Moment magisch, doch als ich letzte Woche die Fahnen meines vierten Romans übernahm, ereilte mich vor allem eines: ungläubiges Entsetzen, denn der Roman kam gesetzt auf eine Seitenzahl von 560.

Da es in meinem Leben oft darum geht, das in mir schlummernde, unbändige Wesen im Zaum zu halten, hatte ich mir auferlegt, nie ein Buch über 500 Seiten zu produzieren. Das neue Manuskript war auch kürzer als meine bisherigen Werke, es konnte sich also nur um einen Fehler handeln!

Doch dem war nicht so. Seit mein letztes Buch vor sechs Jahren erschienen war, hat sich die Sehkraft des durchschnittlichen Lesers so verschlechtert, dass man die Standard-Schriftgröße anpassen musste.

Als Leserin war mir das noch nicht aufgefallen, aber da ich ohne Kontaktlinsen verloren wäre, bin ich wohl das beste Beispiel für die Notwendigkeit dieser Maßnahme. Nun könnte (und sollte) man darüber klagen, dass sich unsere Gesellschaft mit ihrem Bildschirmkonsum das Augenlicht zerstört, aber ich möchte lieber die etwas hübschere Seite der Medaille betrachten: Obwohl es uns immer schwerer fällt, lassen wir nicht vom Lesen. Und das ist dann doch eine frohe Botschaft!

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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