Das Zauberrohr

"ÜberLeben": Warum ich ein längliches Kartondings nicht wegwerfen kann.
Guido Tartarotti

Guido Tartarotti

Diesen Sommer hatte ich eines Tages plötzlich das Gefühl, mein Wohnzimmerteppich ist zu dunkel und fühlt sich unter den Füßen nicht mehr gut an. Also fuhr ich in ein Möbelhaus und erwarb einen billigen, aber schönen, hellen Teppich. Zuhause rollte ich ihn aus und stellte fest: Ja, der tut den Fußsohlen gut.

Und ich bemerkte: Der Teppich war um ein langes Rohr aus Karton gewickelt gewesen. Ich nahm das Rohr, um es zur Misttonne zu tragen, und plötzlich war ich wieder Kind. In meiner Kindheit wäre mir der Teppich völlig wurscht gewesen, das Rohr hätte ich dagegen als Sensation empfunden. In meiner Fantasie wäre das Rohr schlicht alles gewesen: Ein Schwert, ein Speer, ein Ruder, ein Paddel, ein Pferd, ein Flugzeug, ein Fernrohr, eine Zaubermaschine.

Ich weiß noch, wie meine Großmutter eines Tages das Rollo an einem ihrer Fenster austauschte.  Dabei fiel ein langer Plastikteil zu Boden. Ich nahm das Ding, umwickelte den Griff mit Leukoplast und hatte damit einen Degen. Fortan ging ich als Musketier durch die Welt – leider hatte keiner meiner Spielkameraden ein ähnliches Gerät, daher konnte ich niemanden zum Duell fordern.

Am Tag nach dem Teppichkauf kamen meine Kinder zu Besuch, entdeckten das Kartonrohr und fragten mich, was das soll. Ich erklärte es ihnen und sie sahen mich leer an. Klar, sie sind die Generation Gameboy. Ein Kartonrohr ist für sie nicht das heilige Schwert von König Artus, sondern einfach ein Stück Abfall. Wir unterhielten uns über Spiele der Kindheit, und innerhalb von Sekunden waren meine Kinder bei den Feinheiten irgendwelcher Computergames angekommen.

Der Teppichkauf ist jetzt schon länger her, der Teppich fühlt sich wunderbar an unter den Füßen, und an der Wand des Wohnzimmers lehnt das Kartonrohr. Ich bringe es nicht übers Herz, es wegzuwerfen. Es steht  da und erinnert mich an etwas, das einmal zu mir gehört hat.

Kommentare