Wiederentdeckter Österreicher: Rilke Reloaded!
Rainer Maria Rilke ist in – nicht nur, weil dieser Tage sein 150. Geburtstag UND sein 100. Todestag im Fokus stehen. Vielmehr ist kaum ein alter Dichter heute so jung wie er.
Während Germanisten noch so gerne von der „Stimme der Moderne“ sprechen, hat die Generation TikTok ihn längst zur Meme-Ikone erklärt: als Lieferant existenzieller One-Liner, als Patron der Selbstsuche, als literarischer Softboy.
Seine Zeilen landen unter Gym-Motivationsvideos, Liebeskummer-Reels und in Lady-Gaga-Interviews – beziehungsweise auf ihrem linken Oberarm, wo ein durchaus langes Zitat aus Rilkes Briefe an einen jungen Dichter prangt. The Weeknd wiederum zimmerte 2022 um seine Duineser Elegien ein ganzes Album, der Sänger der K-Pop-Band BTS tanzt sich mit einem Rilke-Spruch auf nackter hAUT durch ein Video: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ ist auf seiner Brust zu lesen.
Selten war ein Dichter gleichzeitig so museal und so mitten im Zeitgeist. Rilke, 150 Jahre alt – und irgendwie immer noch der Jüngste im Raum. Woher kommt diese Begeisterung für den blassen Altösterreicher aus Prag, den Sigmund Freud einst einen „großen, aber im Leben ziemlich hilflosen Dichter“ nannte?
Wobei wir hier vielleicht schon nah dran sind an der Faszination, die er gerade auch auf die Gen Z ausübt, Stichwort „Sadboi-Ästhetik“, – aber der Reihe nach.
Fiebrige Augen, Hipsterbebartung - Rene hätte sich auch auf aktuellen Social-Media-Plattformen gut geschlagen
©Wikimedia Commons/Unknown authorRené Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 geboren. Sein Vater war Bahnbeamter, der zeitlebens einer verpassten Offizierskarriere nachtrauerte, seine Mutter kam aus einer wohlhabenden Prager Fabrikantenfamilie und war frustriert, weil ihr Mann ihr nicht den Luxus bieten konnte, den sie zu verdienen glaubte. Vor allem aber konnte sie den Tod ihres ersten Kindes, einer Tochter, die mit nur wenigen Wochen gestorben war, nicht verwinden.
Deshalb beschloss sie wohl, dass René nun ihr geliebtes Töchterchen sein sollte, zog ihm hübsche Kleidchen und Röcke an, ließ ihn mit Puppen spielen und bürstete sein langes blondes Haar.
Außerdem lest ihr in dieser Geschichte noch:
- Rilke und die Frau mit der Peitsche
- Polyamorie vor 130 Jahren?
- Wie hätte Rilke auf den Hype reagiert?
Sein Vater, der Beinahe-Offizier machte mit dem Zauber Schluss. Als Rilke elf Jahre alt war, schickte er ihn als Vorbereitung für eine Offizierslaufbahn auf die Militärschule in St. Pölten. Ein ordentliches Kontrastprogramm, könnte man sagen.
Lange machte der zarte, künstlerisch begabte René da allerdings nicht mit. Mit 16 zog er nach Linz, ein reicher Onkel hatte ihn dort in der Handelsakademie untergebracht. Und der junge Rilke begann glatt eine Affäre mit dem Kindermädchen der Nachbarn jener ebenfalls reichen Bekannten seines Onkels, bei denen er wohnen durfte. Er wurde erwischt, es folgte eine abenteuerliche Flucht nach Wien – aber schließlich musste er nach Prag zurückkehren.
Sprüche, wie für die Gen Z und TikTok gemacht
©Illustration: Bartosz Chudy/SoraOhne Olga Blumauer, wie das arme, einige Jahre ältere Kindermädchen hieß.
Das sind tatsächlich Dramen, von denen die meisten Influencer nur träumen können! Und so ganz nebenbei lebte Rilke nicht nur sehr früh abseits der Norm, sondern schrieb bald auch noch berückend schöne Gedichte darüber.
Würde er heute Social-Media-Kanäle dafür nutzen, seine Gedichte und Gedanken in die Welt zu tragen?
Auszuschließen ist das keinesfalls. Er schrieb seine Werke in mondänen Pariser Apartments, auf Schweizer Landsitzen und in italienischen Schlössern – die seine Gönner für ihn bezahlten.
Man kann ihn sich also durchaus vorstellen, wie er mit gesenktem Kopf in eine Kamera blickt, so von unten, ein wenig trotzig, aber auch verletzlich oder eben trotzig, gerade weil er so verletzlich ist, und Sätze wie „Vielleicht sind alle Drachen Prinzessinnen“ oder „Lass alles zu dir kommen: Schönheit und Schrecken“ an seine Millionen Follower versendet.
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Diese Möglichkeit hatte er um die vorletzte Jahrhunderwende freilich noch nicht, aber auch ganz ohne Internet ging sein Stern rasch auf.
Eine Frau verändert alles
Vielleicht ja auch, weil er 1897 eine ganz besondere Frau kennenlernte: Lou Andreas-Salomé. Genau die Frau, die 15 Jahre zuvor Friedrich Nietzsche und seinen Freund Paul Rée, beide über beide Ohren verliebt in sie, für ein Foto vor einen Karren spannte und mit der Peitsche antrieb.
Die Frau, die sämtliche Anträge der beiden Philosophen ablehnte und schließlich den um Jahre älteren und ebenfalls unsterblich in sie verliebten Orientalisten Friedrich Carl Andreas heiratete. Aber nur unter der Bedingung, dass die Ehe mit ihm nie vollzogen werde. Für diese Aufgabe suchte sie sich andere Männer – wie den damals 22-jährigen René Rilke, von dessen Dichter-Talent sie überzeugt war.
Die Frau, die die intellektuelle Welt keineswegs mit ihrer Beziehung zu Nietzsche, sondern mit brillanten Essays wie Jesus der Jude und wissenschaftlichen Arbeiten, die, wie Siegmund Freud bestätigte, die Psychoanalyse vorwegnahmen, beeindruckte, machte dem jungen Rilke aber auch schnell klar, dass er seinen überaus pathetischen Stil einbremsen sollte. Dass er an seinem Ausdruck feilen müsse...
Und dass René einfach zu weibisch für einen seriösen Literaten klingt. Rilke änderte seinen Vornamen in Rainer.
So geht Polyamorie
Dafür nahm sie den jungen Mann mit auf Reisen, so sehr, dass ihm der Kopf schwirrte, unter anderem zwei Mal ausgedehnt nach Russland, einmal davon mit ihrem eigentlichen Ehemann, Herrn Andreas. Eine polyamoröse Beziehung, wie sie auch heute in fiebrigen Teenagerträumen herumgeistert – und nebenbei einfach ganz ungemein angesagt ist.
„Alternative Beziehungsmodelle“ nennt man das und die würden gerade jetzt Stoff für hunderte Blogs, Shorts und Storys bieten, da würden die Herzchen nur so über das Handydisplay rasen.
Als Salomé nach drei Jahren beschloss, die Beziehung zu Rilke zu beenden, war er dementsprechend am Boden zerstört.
Aber auch das gehört zum Dichterleben, das nicht nur heutige Generationen lieben. „Du warst das Zarteste, das mir begegnet, das Härteste warst Du, damit ich rang. Du warst das Hohe, das mich gesegnet – und wurdest der Abgrund, der mich verschlang“, schrieb er damals. Und auch das könnte irgendwann als Tattoo auf einem Oberarm landen. Wenn der groß genug ist ...
Und auch der schlimmste Abgrund, in dem sich ein Künstler so öffentlichkeitstauglich wie ästhetisch wälzt und selbst zerfleischt kann ein Sprungbrett sein, ein Aufzug ganz nach oben. Rilke wurde der Dichter der Stunde, der Erneuerer der deutschen Poetik, der Magier der Sprache.
Er heiratete eine aufstrebende Malerin und Bildhauerin, wurde ihr untreu, so oft es sich ergab – und schrieb Gedichte, die schon zu seiner Zeit für Euphorie sorgten. Er lebte Rock’n’Roll, wie man es im späten vorigen Jahrhundert genannt hätte, bevor es diesen Ausdruck überhaupt gab.
Seine Duineser Elegien, geschrieben auf Schloss Duino, wo man heute in Richtung Grado auf dem Rilke-Wanderweg dem Dichter ganz nahe sein kann, die Briefe an einen jungen Dichter oder Gedichte wie Der Panther begeisterten seine Zeitgenossen – und finden heute noch ihr Publikum. Zu Recht. Oder zum Glück, wie man auch sagen könnte.
So darf man einem der größten österreichischen Dichter aller Zeiten durchaus zu seinem nachhaltigen Erfolg gratulieren. Er würde sich wohl darüber freuen.
Wahrscheinlich würde er sich auch über die uneingeschränkte Zuneigung einer Lady Gaga freuen. Ganz sicher sogar. Was hat sie übrigens wirklich auf ihrem Oberarm tätowiert?
„Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?
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