Ein Hahn namens Fiepser
Vielleicht war es falsch, das Ei aus dem Nest zu nehmen, ich hätte auf die Natur vertrauen sollen. Doch das wusste ich damals noch nicht, ahnte die Folgen nicht.
Aber von vorne: Unsere Henne hatte schon drei Wochen gebrütet, doch dann stand sie ein paar Stunden zu früh auf, um die "erstgeborenen" Küken auszubrüten. Und so lag das grüne Ei einer Araucaner Mutter und eines Altsteirer Vaters angeknackst und ausgekühlt im Nest. Schade, hat’s nicht geschafft, dachte ich und nahm es in meine warmen Hände. Da bewegte sich der winzige Schnabel im Ei. Auf und zu, kaum merkbar. Panik. Es lebt! Wärme, schnell! Woher? Was tun? Helfen oder nicht? Schale aufbrechen?
Es ist ein kühler, aber sonniger Maitag. Das Küken beginnt sich im Ei zu strecken. Die Schale bricht. Langsam löst sich das Wesen aus seiner Hülle. Ich helfe mit. Hätte ich nicht tun sollen. War zu ungeduldig, zu unwissend. Das kleine Leben blutet. Bei jedem Atemzug rechne ich damit, dass es der letzte ist. Es hört nicht auf zu atmen, aber es hört auf zu bluten. Behutsam lege ich das Küken auf meinen Bauch, ein dunkles Leiberl drüber, die Sonne scheint drauf. In dieser Höhle entwickelt sich im Laufe von ein paar Stunden ein flauschiges Bilderbuchküken. Es beginnt die winzigen Chia-Samen, die ich mir auf den Bauch streue, aufzupicken. Und dann – der erste Schluck Wasser. Es trinkt. Es wird überleben.
Der Versuch, das Küken der Glucke zurückzugeben, scheitert. Es ist noch zu schwach. So nehmen wir es abends mit ins Haus. Damit beginnt ein Abenteuer, das ich mir so nie erträumt hätte. Fiepser – ob Henne oder Hahn erkennen wir noch nicht – lebt mit uns mit. Pickt die Brösel unterm Tisch auf, frisst mit unserem Jagdhund Max aus einer Schüssel. Was es keinesfalls mag: alleine sein. Je weiter ich weggehe, desto lauter fiepst es. Was seinen Geschwistern die Glucke, bin ich für ihn. Ich lerne: Auch Küken muss man zu ihrem Glück zwingen. Ist es müde, schläft es nicht einfach ein, sondern wird nervös, überdreht. Alles können Hühner von selbst: fressen, trinken, scharren, Nahrung erkennen, Gefahren einschätzen. Entspannen können sie sich aber nur in Geborgenheit. Stecke ich das Küken unter meinen Pullover, verkriecht es sich in der Achselhöhle. Und wird aus "fieps, fieps" "gruuu", "gruuu", ist es eingeschlafen. So gehen wir sogar gemeinsam in die Pizzeria und keiner merkt’s.
Aber das Küken wächst. Versuche, es in die Hühnerschar einzugliedern, scheitern. Auf den Menschen geprägt, nützen selbst die Rufe der Glucke nicht. In der fünften Woche ist es so fit, dass es auf den Tisch fliegt und mitfressen will. Mit sechs Wochen wiegt es rund 300 Gramm, passt aber noch durch die Maschen des Zauns, sodass es aus dem Hühnerstall zu uns flüchtet – zu seiner vermeintlich richtigen Familie. Einmal verbringt das Küken die halbe Nacht auf der Straße, vor dem Hoftor, weil es auf uns wartet. Und wenn ich einkaufen gehe, sitzt Fiepser gemeinsam mit unserem Hund auf der Rückbank des Autos. Habe ich einen Kochgast für die freizeit-Serie "Am Herd" zu Besuch, hüpft das Küken in der Küche umher. Rainhard Fendrich wäre beinahe draufgestiegen.
Immer wieder frage ich mich, ob es ein Fehler war, dieses Tier zu retten. Ob es überhaupt eine Chance auf ein gutes Leben hat. Aber wäre es besser gewesen, es sterben zu lassen? Masthühner liegen in dem Alter schon als Grillhendl auf dem Teller.
Mit rund acht Wochen verstößt eine Glucke ihre Küken. Das nehme ich mir als Zeithorizont zur Abnabelung. Zum Eingewöhnen trennen wir ihm im Stall einen kleinen Bereich ab. Einzelhaft. Zur eigenen Sicherheit. Aber bald schon findet Fiepser einen Weg zu den anderen.
Es hat geklappt. Das Tier lebt jetzt mit seinen Artgenossen. Inzwischen ist auch klar geworden, was zu befürchten war: Es ist ein Hahn. Nicht, dass das schlimm wäre, aber eine Hühnerfamilie verträgt nur einen einzigen Hahn. Nun sind in diesem Jahr aber aus sechs Eiern fünf männliche Küken geschlüpft. Fiepser schlachten? Niemals. Während des Sommers entdecke ich ungeahnte Einsatzmöglichkeiten für einen zahmen Hahn. Nicht nur, dass er unsere fliegenden Ameisen komplett ausrottet, nehme ich ihn auch mit auf den Acker, wo er seine Aufgabe, die Erdäpfelkäfer zu beseitigen, hochprofessionell erledigt.
Inzwischen ist Fiepser fast ein Jahr alt. Ein stattlicher Hahn, der sich immer noch von meinem Sohn Martin und mir streicheln und hochheben lässt. Seine Brüder und auch sein Vater sind ihm zu Gunsten geschlachtet und verkocht worden. Er beglückt seine fünf Hennen und wird hoffentlich für Nachwuchs sorgen. Aber eines macht mir Sorgen. Sieht er mich, tänzelt er um mich herum, wie er es bei seinen Hennen macht, bevor er sie bespringt. Wo wird das noch hinführen?
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