Multiple Sklerose: „Die Unsicherheit ist präsent“

Der Saal im Wiener Josephinum war an diesem Dienstagabend brechend voll, als sich die Expertenrunde sowie Moderatorin Gabriele Kuhn auf der Bühne einfanden, um im ersten KURIER Gesundheitstalk dieses Jahres über ein Thema zu sprechen, das viele Menschen betrifft und ein Leben lang beschäftigt: Multiple Sklerose, kurz „MS“ genannt.
Es handelt sich um die häufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems im jungen Erwachsenenalter, wie Univ.-Prof. Thomas Berger von der Universitätsklinik für Neurologie an der MedUni Wien erklärte. „Im Fall von Multiple Sklerose geht es konkret um Entzündungen im Gehirn und im Rückenmark, die die Schutzschicht unserer Nerven, die Myelinschicht, beschädigt. Vergleichbar mit dem Prinzip eines Kabelbrands: Das Stromkabel ist der Nerv und rundherum ist die Isolierschicht. Wird diese Isolierung zerstört, kann die Erregungsübertragung im Gehirn und im Rückenmark nicht stattfinden. Aufgrund dessen kommt es zu den Beschwerden der Betroffenen“, so Berger.
Die Folgen dieser Autoimmunerkrankung können Sehstörungen, Lähmungen, Gehschwierigkeiten auch Gefühls- oder Gleichgewichtsstörungen sein. Rund 14.000 Menschen sind in Österreich betroffen, der Großteil davon Frauen.
Vielseitige Therapien
In der Regel treten die ersten MS-Symptome, die oft mit einseitigen Sehstörungen beginnen, im Alter zwischen 20 und 40 Jahren auf. Dank fortgeschrittener Tools erhalten Patientinnen und Patienten inzwischen schnell eine Diagnose. Denn eine rasche und vor allem frühzeitige Diagnose ist essenziell für den Therapieerfolg. „Multiple Sklerose ist in den meisten Fällen eine behandelbare Erkrankung geworden“, erläuterte Univ.-Prof. Barbara Kornek von der Universitätsklinik für Neurologie an der MedUni Wien.
Das liegt auch an den vielseitigen Behandlungsmöglichkeiten. „Es hat ein Paradigmenwechsel in der Therapie stattgefunden. Im Gehirn bleiben, anders als beispielsweise auf der Haut, nach jeder Entzündung Narben. Daher sind eine schnelle Diagnose und ein rascher Therapiestart so enorm wichtig. Sie haben das Ziel, die Entstehung neuer Entzündungsherde vorzubeugen und somit auch das Fortschreiten der Erkrankung zu beeinflussen“, so die Expertin. Während 1995 in Österreich das erste Medikament auf den Markt kam, das eine Schubreduktion herbeiführen konnte, gibt es inzwischen 20 verschiedene.
Manches wird gespritzt, manches wird geschluckt, andere werden als Infusion verabreicht. Dieses Therapiespektrum ermöglicht es, auf die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzugehen. Mittlerweile ist es zum Beispiel auch für MS-Betroffene gut möglich, ihrem Kinderwunsch nachzugehen, ohne im Anschluss an die Geburt einen schlechteren Verlauf fürchten zu müssen. „Wir haben Medikamente mit deren Hilfe wir Frauen sicher durch die Phase des Kinderwunsches, der Schwangerschaft und der Geburt begleiten können“, sagte Kornek.

V. l.: Barbara Kornek, Christian Strasser, Gabriele Kuhn und Thomas Berger im Talk
Blick in die Zukunft
Das medizinische Ziel der Ärztinnen und Ärzte geht jedoch noch einen Schritt weiter, wie Berger erläuterte: „Wir wollen – vereinfacht gesprochen – in die Zukunft blicken können und prognostische Faktoren entwickeln, um Krankheitsverläufe vorhersagen sowie den Krankheitsverlauf auf lange Sicht stoppen zu können.“
Trotz der durchwegs positiven medizinischen Entwicklungen auf diesem Gebiet bleibt eine MS-Diagnose für die Menschen ein schwerer Schlag. Denn noch ist man nicht so weit, dass man individuelle Verläufe mit Sicherheit prognostizieren kann. „Die Unsicherheit ist generell präsent im Leben von MS-Erkrankten. Selbst, wenn eine Diagnose im ersten Moment Sicherheit gibt, folgen im nächsten Augenblick tausend neue Fragen: Wie ist mein Verlauf? Wie kann ich mein Leben leben?“, beschrieb Christian Strasser, Geschäftsführer der Multiple Sklerose Gesellschaft Wien, die Ängste von Patientinnen und Patienten.
Und weiter: „Diese Unsicherheiten aufzufangen, den Menschen Mut zu machen, Orientierung zu geben und mit ihnen gemeinsame Perspektiven zu erarbeiten, ist auch unsere Aufgabe. So bieten wir etwa allen Betroffenen und Angehörigen auch eine kostenlose Psychotherapie an“, sagte Strasser.
Damoklesschwert
Trotzdem sich der öffentliche Diskurs rund um die Erkrankung in den vergangenen Jahren leicht zum Positiven geändert hat, sehen sich Betroffene immer wieder mit Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert. Das bekommen sie im Privatleben, am Arbeitsplatz oder auch im Sozialsystem zu spüren. „Ein Stigma der Erkrankung, das leider noch immer in vielen Köpfen festsitzt: Man kann nicht weiter arbeiten oder seinen Alltag nicht mehr alleine bestreiten. Das ist aber überhaupt nicht der Fall! Daher setzen wir uns auch dafür ein, dieses falsche Bild zu korrigieren“, erklärte Strasser.
Neben dem medizinischen Fortschritt braucht es im Umgang mit Multiple Sklerose also auch ein breites gesellschaftliches Umdenken. Tief verankerten Vorurteilen muss entschieden entgegengetreten und Tabus gebrochen werden, um Multiple-Sklerose-Betroffenen privat und öffentlich endlich jenen sicheren Raum bieten zu können, den sie verdient haben.
Zum Nachschauen
Den gesamten KURIER Gesundheitstalk zum Thema Multiple Sklerose (MS) können Sie hier nachschauen:
Neugierig geworden?
Der nächste Gesundheitstalk von KURIER, MedUni Wien und Novartis findet im Mai 2024 statt. Die Veranstaltung ist gratis. Anmeldungen erfolgen unter www.kurierevents.at/gesundheitstalk
Hilfe und Unterstützung zum Thema MS finden Sie unter: www.msges.at