Wien-Neubau: Ein Bezirk als Projekt

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Begegnungszonen und "kühle Meilen", mehr Bäume und weniger Parkplätze: Ein neues Buch zeigt, wie Wiens politisch grünster Bezirk zum "Stadtlabor" wurde.

Normalerweise neigen Bezirksvorsteher dazu, ihren Bezirk schönzureden. Bei Markus Reiter ist das anders. Der grüne Bezirkschef von Wien-Neubau betont gern, dass das Heile-Welt-Image des siebenten Bezirks ein Klischee sei. "Der 7. Bezirk ist nicht die Insel der Seligen! Wir sind in allen Bereichen gefordert", sagte er kürzlich. "Das Medianeinkommen ist nur sieben Prozent höher als im Wiener Durchschnitt. In der Mariahilfer Straße haben wir Obdachlose, und auch bei Schülerinnen mit nicht-deutscher Muttersprache liegen wir nur knapp unter dem Durchschnitt."

Anlass für Reiters kleine Brandrede war eine Buchpräsentation. Martin Heintel, Professor für Geografie und Regionalforschung an der Universität Wien, hat den Band "Wien7_Neubau" herausgegeben, in dem rund 80 Autorinnen und Autoren in 38 – meist in etwas trocken-akademischem Stil verfassten – Beiträgen diverse stadtplanerische Projekte der vergangenen Jahre dokumentieren und analysieren – unter anderem schreibt die frühere Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou über ihr Herzensprojekt Mariahilfer Straße. Wer vom stolzen Verkaufspreis (52 Euro) abgeschreckt ist, kann das Buch via "Open Access" gratis als PDF herunterladen.

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Der erste Abschnitt der Zollergasse wurde 2021 radikal umgestaltet: Autos raus, Bäume rein.

Von Neubau lernen

Der Band macht deutlich, wie Neubau zu seinem Ruf als "Stadtlabor" gekommen ist. Vieles, was in Wien heute fast schon selbstverständlich ist, wurde im 7. Bezirk zum ersten Mal ausprobiert: Radfahren gegen die Einbahn, flächendeckendes Tempo 30, Begegnungszonen oder "kühle Meilen".

Kein Wunder, dass regelmäßig internationale Delegationen nach Neubau kommen, um sich durch den Bezirk führen zu lassen; zuletzt waren Abordnungen aus Bremen und Leipzig zu Gast.

"Diese Projekte zeigen, dass es sehr wohl sehr gut möglich ist, in kleinräumigem Kontext mit der Bevölkerung zu arbeiten und Dinge umzusetzen", sagt Herausgeber Heintel, der als grüner Bezirksrat eine Art "Mastermind" des Stadtlabors Neubau ist.

"Es ist essenziell, empirisch basierte Grundlagenarbeit zu haben, um darauf aufbauend Konzeptionen zu formulieren – und dann in die Umsetzung zu gehen." Das heißt: Erst muss der Status quo möglichst genau erhoben werden, dann entwickelt der Bezirk Ideen zur Verbesserung, die aber zuerst mit der Bevölkerung besprochen und erst dann umgesetzt werden.

Manche Themen erledigen sich auf diese Weise ganz schnell. Zum Beispiel hat eine gründliche Erhebung der Parkplatzsituation ergeben, dass es im Bezirk – inklusive Garagen und Hinterhöfe – mehr Stellplätze als zugelassene Autos gibt. "Damit war die Parkplatzdiskussion mehr oder weniger vom Tisch", sagt Heintel.

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Herausgeber Martin Heintel, Professor für Geografie und Regionalplanung an der Uni Wien, ist auch grüner Bezirksrat - und eine Art Mastermind für das Stadtlabor Neubau. 

Wozu ein Auto?

Apropos Parkplätze: Besonders stolz ist man im Bezirk auf die Umgestaltung der Bernardgasse in eine Wohnstraße – und zwar eine ohne Parkmöglichkeit. Im Vorfeld hatte das mit der Umsetzung beauftragte Architekturbüro Superwien ein Jahr lang eine Mobilitätsberatung eingerichtet – einen einmal in der Woche geöffneten Treffpunkt, an dem Anrainer sich informieren lassen konnten. Oft ging es natürlich darum, wo sie ihr Auto parken sollen. Manchen wurde ein ermäßigter Garagenplatz vermittelt; andere haben im Zuge der Beratung erst realisiert, wie viel sie für ihr Auto ausgeben, und es verkauft.

"Letztendlich gab es überhaupt keine Beschwerden", sagt Superwien-Geschäftsführer Roland Krebs, einer der Co-Autoren des Buchs. "Dabei haben wir immerhin 144 Parkplätze gekillt." Vielleicht ist Neubau in mancher Hinsicht ja doch eine Insel der Seligen.

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Martin Heintel (Hg.): "Wien7_Neubau. Stadtplanung, Stadtentwicklung und Stadtlabor". Böhlau Verlag. 375 Seiten. 52 Euro (oder als Gratis-PDF via Open Access) 

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