Wenn im Kino die Stricknadeln ausgepackt werden

Stricken im Votivkino
Der Film hat noch gar nicht begonnen, da seufzt die Sitznachbarin rechts auf. "Ich hab' mich jetzt schon verzählt”, flüstert sie ihrer Freundin zu. Sie lässt die Hände mit den Stricknadeln sinken, um ihren linken Zeigefinger ist ein hellblaues Garn gewickelt. "Ein Probefleckerl", wie sie erklärt - "da ist es egal, wenn man Fehler macht".
Die Sitznachbarin links hat einen halbfertigen braunen Pullover dabei - und eine andere Taktik. Die Strickanleitung auf den Oberschenkeln, den Kugelschreiber griffbereit. Alle paar Reihen macht sie sich Notizen - und greift zum Popcorn.
Es ist Sonntagabend im Wiener Votivkino. Seit Dezember wird hier einmal im Monat zum Handarbeiten und Filmschauen geladen. Diesmal auf dem Programm? Der Filmklassiker "Der Teufel trägt Prada". Wieder ist der Saal voll. Frauen in selbstgestrickten Pullovern, mit bunten Mützen und Strickzeug in den Taschen nehmen Platz. Vereinzelt sind auch Männer bei "Stricken im Kino" im Publikum.
"Vom Film nix mitbekommen"
Lisa und Petra (beide 33) stricken und häkeln schon im Foyer. Sie sind zum zweiten Mal dabei. Kollektives Handarbeiten, das hat was, finden die beiden. "Bei uns im Freundeskreis ist Stricken nicht so beliebt. Und so ist man dabei nicht immer allein", sagt Petra. Vom letzten Film ("Stolz und Vorurteil") habe sie zwar nicht viel mitbekommen, "aber ich hab’ ihn dann zu Hause einfach noch einmal angeschaut", sagt sie und lacht. Stricken ohne dabei auf die Finger zu schauen? Das klappe trotz der vielen Übung noch nicht ganz. Gelernt haben die beiden Schwestern das Handwerk von ihrer Großmutter.
Auch für Gertrud Issakides vom Wollgeschäft "Wolle Wien" ist es das zweite Mal bei "Stricken im Kino." Sie lässt ihre Nadeln tanzen, während sie sich vor Filmbeginn unterhält. “Die Stimmung im Saal ist einfach super”, findet sie. “Zuerst hört man das Klackern der Stricknadeln und wie die Leute ihre Taschen mit den Stricksachen öffnen, aber sobald der Film beginnt, wird es ganz still und alle arbeiten konzentriert - und das bei über 170 Personen im Saal!”.

Beim "Stricken im Kino" im Votivkino bleibt das Licht gedimmt an
In anderen Städten verbreitet
Die Organisatorinnen von "Stricken im Kino" sind Judith Haslöwer (27) und Luisa Palmer (32) vom Votivkino. Das Konzept kannten sie bereits aus anderen Städten. Wie so viele haben sie während der Pandemie das Handwerk neu für sich entdeckt - und mit Kolleginnen und Kollegen eine Strickgruppe gegründet. "Wir wussten, dass es im Team schon Interesse für so eine Veranstaltung gibt und dachten: Im Zweifelsfall sitzen eben nur wir strickend im Kinosaal und haben eine gute Zeit", erinnert sich Palmer.
Aber die Veranstaltung kommt an. Die Vorstellungen sind jedes Mal innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Das Ziel, ein möglichst breites Publikum anzusprechen, gehe auf, so Haslöwer: "Hinter uns saßen heute z. B. zwei ganz junge Mädchen, die waren vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Beim letzten Mal waren auch viele über 60-Jährige dabei. Der Durchschnitt ist aber wahrscheinlich Mitte 20."
Strickevents bei Jungen beliebt
Einen neuen Trend zum organisierten Stricken und Häkeln beobachtet auch Franziska Magel (26), die einmal pro Monat den Strickclub "Stitchsipknit" in Wien veranstaltet. Das Publikum besteht hauptsächlich aus Frauen und queeren Menschen Anfang bis Mitte 20, sagt Magel im Gespräch mit dem KURIER. "Es kommen aber auch immer wieder Frauen mit ihren Partnern, die dann hier das Stricken lernen." Die nächsten drei Durchgänge sind bereits ausgebucht. Im März werden die April-Termine veröffentlicht.
Viele hätten im Lockdown vermehrt zu den Stricknadeln gegriffen. "Ein extremer Hype kam dann mit dem Sophie Scarf“, sagt die klinische Psychologin in Ausbildung. Der kleine Schal der dänischen Strickdesignerin Mette Wendelboe Okkels ("Petite Knit"), der über die sozialen Medien zum Hit wurde, ist ein beliebtes Einstiegsmodell - und ist auch bei ihren Veranstaltungen das am häufigsten mitgebrachte Stück.
"Wollte es selbst mal ausprobieren“
Luca (30), die an diesem Abend zum ersten Mal in der Buchhandlung Hafi Books dabei ist, trägt ein rosafarbenes Mini-Schal-Modell. Sie hat erst vor kurzem mit dem Stricken begonnen und arbeitet gerade an einer Babymütze. "Ich folge auf Social Media vielen Strickfluencern, die auf solche Events gehen, und wollte es selbst mal ausprobieren“, erzählt die Projektmanagerin. Was sie am Stricken am meisten mag? "Stricken ist meditativ und man hat die Hände dabei beschäftigt. Man hat also gar nicht die Möglichkeit, sich vom Handy ablenken zu lassen.“
Emma (26), die Architektur studiert, findet Strickevents "praktisch, weil man Fragen stellen kann, wenn man an einer Stelle nicht weiterkommt. Meistens nehme ich aber ohnehin leichtere Modelle mit, damit ich mich dabei gut unterhalten kann."
- Stricken im Kino (Vorverkauf immer am 1. des jeweiligen Monats, nächster Film: "Lady Bird")
- Stitchsipknit (Anmeldung via Instagram)
- Crochet & Knit Hangout (Anmeldung via Instagram)
- Laniato - das Wiener Wollcafé
- Stricknachmittage bei "Verstrickt & Zugenäht"
Multitasking ist nötig
Und wie strickt es sich im Kinosaal? Die Atmosphäre ist von der ersten Minute an gemütlich. Das Licht im Saal bleibt gedimmt an. In den Reihen wird konzentriert gearbeitet und zwischendurch leise gefachsimpelt. "Die meisten Gäste sind pragmatisch und nehmen kleinere Projekte mit, die gut auf den Schoß passen", so Initiatorin Haslöwer. Mützen, Socken, Fäustlinge sind häufig zu sehen. Wer beim Film richtig mitfühlen will, legt sie auch mal beiseite. Denn - so viel ist klar - ein gewisses Multitasking-Talent ist gefragt.
Während Anne Hathaway in der Filmkomödie durch die Modewelt stolpert, nimmt der braune Pulloverärmel links langsam Form an. Auch das blaue Probefleckerl zur Rechten wächst. Die eigene Ringelsocke bekommt etwas verwackelte Streifen, bis zum Abspann bleibt die Ferse in weiter Ferne. Bei der Suche nach dem zweiten Garn wird die Sitznachbarin mit Popcorn überschüttet - die ist zum Glück gerade mit Maschenzählen beschäftigt. Immerhin: Der Snack hat bis zum Filmende gereicht. Auch eine Premiere.
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