Schreibwettbewerb für Senioren: Geschichten, die das lange Leben schrieb

Ein Rückblick auf das Wien der 1970er-Jahre: Ingrid Göschl war bei der Arena-Besetzung dabei und schrieb nun darüber
Ich war siebzehn und Wien eine graue Stadt, in der man den Tod besang wie anderswo die Liebe, schreibt Ingrid Göschl. Dies war 1976, und die graue Stadt sollte alsbald ein paar Farbtupfer bekommen: Denn spontan besetzten Intellektuelle, Künstler und Studenten die Arena, Göschl war eine von ihnen. Ein kleines Dorf war die Arena, beschreibt sie. Wie von Zauberhand waren Hydranten und Wände plötzlich bunt bemalt.
Für Göschl ist die Arena-Besetzung mehr als ein Stück Zeitgeschichte: Ihr Text darüber brachte ihr nun Platz eins bei einem Literaturcontest. Ausgeschrieben wurde dieser von den Wiener Seniorenheimen „Häuser zum Leben“; mitmachen konnten Heimbewohner sowie Mitglieder der Pensionistenklubs der Stadt.
Ein Zeitdokument
Göschl, von Beruf Bilanzbuchhalterin, entdeckte in der Pension ihre Leidenschaft fürs Schreiben und besucht regelmäßig die Schreibwerkstatt der Pensionistenklubs. „Dort sagten mir die anderen Teilnehmer, es wäre doch ein super Zeitdokument, über die Arena zu schreiben“, erzählt sie. „In Dokus machen sich viele wichtig, die kaum dabei waren. Ich habe einen ganzen Sommer dort verbracht.“

Die älteste Autorin ist Maria Baumgartner
Prompt erkor die Jury ihren Text aus mehr als 100 Einsendungen zum Sieger. Insgesamt wurden 16 Texte von zwölf Autorinnen und vier Autoren ausgezeichnet – und außerdem nun in einem Büchlein publiziert (siehe Infobox).
Die älteste Autorin
Auch Maria Baumgartners Beitrag ist dabei: Dass ihr Werk veröffentlicht wurde, freue sie auch mit 92 Jahren noch enorm, sagt sie. Sie trägt eine pinke Weste, geht am Stock und spricht druckreifes Hochdeutsch. Besonders liebe sie Gedichte: „Sie ergreifen einen tiefer als Prosa.“ Auch ihr Text mit dem Titel „Innere Stadt“ ist ein Gedicht: In den engen Gassen der Altstadt haben Geheimnisse noch ihren Platz, heißt es darin. Mittlerweile lebe sie zwar im Seniorenheim. „Aber ich freue mich, dass meine Erinnerungen an die Innenstadt noch in mir lebendig sind.“
Erinnerungen an Wien – das war übrigens auch Thema des Wettbewerbs. Und was könnte wienerischer sein als ein Gemeindebau? Um das Aufwachsen im Gemeindebau in Ottakring geht es im Beitrag von Karin Petersen. Da gab es den Hausmeister, der „Auße aus der Wies’n, aber g’wschind“ rief, die lästernde Nachbarin („Aufgedackelt wie a Pfingstochs ist die“) oder die Milchfrau, deren Mann schlicht der Herr Milchfrau war.
Wie entstand die Idee zum Literaturcontest? „Es gibt so viele Klischeevorstellungen über Pensionistenwohnhäuser. Dabei gibt es hier so viel Kreativität und so viel zu erzählen“, sagt Simon Bluma, stellvertretender Geschäftsführer der „Häuser zum Leben“. So sei die Idee entstanden, einen Schreibwettbewerb zu starten.
Die besten Texte wurden nun publiziert – und sie werden auch öffentlich vorgelesen: Anlässlich des Vorlesetags am 28. März sind Stefano Bernardin, Eva Pölzl, Barbara Stöckl, Susi Stach und Marie-Theres Arnbom in den „Häusern zum Leben“ zu Gast. Sie lesen nicht nur Texte bekannter Autoren wie Hugo Wiener, Loriot oder Ephraim Kishon, sondern auch aus den Siegertexten. Infos und Anmeldung zum Vorlesetag sowie die Broschüre mit allen Siegertexten finden sich auf www.dieklubs.at.
Wer selbst auf den Geschmack gekommen ist: Die Pensionistenklubs bieten mehrmals pro Woche Schreibwerkstätten an. „Bei uns gibt es keinen Rotstift, sondern einen rosafarbenen Stift. Wir suchen nicht die Fehler, sondern markieren die starken Stellen mit rosa Farbe“, betont Claudia Knief, die die Schreibwerkstatt im 17. Bezirk leitet.

Autorin Karin Petersen (li.) mit Claudia Knief, Leiterin der Schreibwerkstatt
„Zuerst wollte ich gar nix einschicken. Einen Gemeindebau – das kennt doch eh jeder“, erzählt Petersen. „Aber dann war das Eintauchen in die Erinnerungen schon schön.“ Als sie hörte, dass ihr Beitrag es in die Top Ten geschafft hatte, habe sie sofort ihrer Familie über WhatsApp geschrieben („Ich glaube, ich brauche einen Schnaps“) und vor Freude kaum geschlafen.
„So geht’s oba net“
Fast ebenso typisch wienerisch: der herrische Beamte. Den trifft man in Hendrika Schlofers Text. Geboren in den Niederlanden, machte sie mit der Bürokratie in Österreich so manch skurrile Erfahrung der Kategorie: „So geht’s oba net.“ „Ich hätte manchen Beamten am liebsten eine geklatscht“, scherzt sie und lacht.
Hilfsbereiter ist da schon der Star aus Gerda Meths Text: nämlich Spaniel Rocky. „Meine Mutter hat meinen Vater, mich und den Hund erzogen“, erzählt sie. Mit Erfolg: Rocky lief am Morgen mit einem leeren Nylonsackerl im Maul auf die andere Straßenseite, wo ihm die Trafikantin Zeitungen und Zigaretten ins Sackerl stopfte. Dann in die Bäckerei, wo er zwei Semmeln in sein Sackerl bekam, schreibt sie. Wie bei vielen Autoren drängt sich die Frage auf: Wie viel davon ist wahr?
„Das war wirklich so“, versichert Meth. „Damals waren im 17. Bezirk kaum Autos unterwegs, da war das für den Hund nicht gefährlich, und es hat jeder jeden gekannt.“ Und jeder kannte natürlich Rocky, den Spaniel.

„Manchmal ist die Erinnerung auch traurig“: Grete Orou veröffentlichte einen Brief, den sie 1955 an ihren Ehemann geschrieben hat
Freilich, manchmal sind die Erinnerungen auch ein wenig traurig. Beim Bewerb wurden auch Texte aus der Sparte Zeitdokumente ausgezeichnet, hier zählt Grete Orou zu den Siegerinnen: Sie veröffentlichte einen Brief, den sie 1955 an ihren späteren Ehemann schrieb. „65 Jahre waren wir verheiratet. Vor zwei Jahren ist er gestorben“, sagt sie. Beim Nachlesen der Briefe habe sie diese „zwischendurch weglegen müssen, wenn es zu traurig geworden ist“.
Fast ein Treppen-Witz
Und doch, fügt sie hinzu, gebe es auch schöne Erinnerungen. Etwa diese: Als junge Frau sei sie sehr gerne durch die Kärntner Straße spaziert. „Auf einmal sehe ich eine Masse an Menschen und denke mir, was ist denn da los?“ Im Brief beschrieb sie es so: Ich stand auf einmal vor einer Rolltreppe. Prompt stieg ich auf einen Spalt zwischen zwei Stufen. Als sie sich eine Sekunde später teilten, wäre ich beinahe gestolpert. Und da, als sie das erzählt, muss sie doch wieder lachen.
Das Schönste am Wettbewerb? Die Anerkennung, betonen alle. Wie Göschl über die Arena schreibt: Jeder hatte das Recht, zu sprechen und gehört zu werden. 49 Jahre später bot auch der Literaturcontest eine Möglichkeit dazu.
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