Das 15.000-Volt-Risiko: Warum die ÖBB mit einer Chirurgin in die Schulen gehen

Social Media befeuert Mutproben wie Graffiti-Sprayen oder das Trainsurfen.
Im Bereich der Bahn passieren viele Unfälle. Viele lassen sich durch Vorsicht vermeiden, bei anderen – etwa Mutproben – braucht es mehr Präventionsarbeit.

Fast drei Kilometer – so lang ist der Bremsweg eines Railjets, der mit 230 km/h unterwegs ist. „Auch wenn mich der Lokführer sieht, er wird nicht anhalten“, sagt Herbert Ofner aus dem Stab Sicherheit und Qualität der ÖBB. Man müsse also vorsichtig sein und wissen, wie man sich im Notfall verhalten muss, erklärt Ofner  den Schülerinnen und Schülern der 3. Klassen der Mittelschule im Bildungscampus Hütteldorf. 

Auf Lichtsignale und Schilder achten, die gelbe Linie am Bahnhof nicht übertreten. Alles Dinge, die viele der Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit bereits gehört haben. Und dennoch kommt es zu zahlreichen Unfällen. Die meisten – etwa 50 Unfälle jährlich – passieren im Bereich von Eisenbahnkreuzungen, sagt Ofner. Schlicht und einfach, weil Signale und Schilder missachtet werden. 

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Herbert Ofner von ÖBB hält Vorträge an Wiener Schulen

Was aber, wenn der Fehler bereits passiert ist und man sich etwa  mit dem Auto zwischen zwei Schranken auf einem Gleis befindet? „Aussteigen und wegrennen“, sagt ein Bub. „Ja, das geht, ist aber nicht die beste Variante“, antwortet Ofner. Besser sei es, auf’s Gas zu steigen. „Die Schranken geben nach oder brechen.“ Ein deutlich kleineres Übel als die Folgen, die eine Kollision mit dem Zug haben würde. 

Die unsichtbare Gefahr

Unachtsamkeit ist aber  nur das eine. Die Mittelschüler, die am Mittwoch den Vortrag von Ofner zum Thema Sicherheit hörten,  fallen genau in die Altersklasse derer, die  sich als „Trainsurfer“ profilieren. Dabei handelt es sich um meist jugendliche Personen, die auf dem Dach eines fahrenden Zuges „surfen“ – also mitfahren. Und sich dabei der  Gefahr von rund 15.000 Volt Stromstärke aussetzen, die durch die Oberleitung fließt. 

„Ich muss die Leitung nicht einmal berühren, um einen Stromschlag zu bekommen“, sagt Ofner. In Form eines Lichtbogens springe der Strom einfach über – und das über mehrere Meter hinweg. 

Trainsurfer: 13 bis 21 Jahre, meist männlich

Bis zu fünfmal pro Jahr komme es allein bei den ÖBB zu solchen Stromunfällen. „Sie schlagen ein wie ein Blitz. Die Leute beginnen zu brennen“, beschreibt es Viktoria König den Schülern. Sie ist plastische Chirurgin, auf ihrem OP-Tisch  am AKH Wien landen die Opfer nach dem Unfall oft. Schließlich gibt es hier das österreichweit einzige Zentrum für schwere Brandverletzungen. Ein bis zwei Stromunfälle behandelt sie jährlich. Bei der Hälfte davon handelt es sich um Trainsurfer oder Graffiti-Sprayer, meist Burschen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren.

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Chirurgin Viktoria König präsentiert Fotos von Jacob.

Einer von ihnen ist Jacob. Ein Amerikaner, der auf Wien-Besuch ein Graffito auf einen Zug sprayen wollte. Der Strom ist auf die metallische Spraydose übergesprungen, Jacob musste der Arm amputiert werden. Auf die Leinwand projiziert König zwei Fotos von dem Burschen: Eines vor dem Zug mit dem Graffito, eines im Krankenhaus ohne Haare und ohne rechten Arm. „Zugegeben, es sind tolle Fotos, wie die Leute auf Zügen surfen oder Graffiti sprayen, aber dann so viel Zeit auf der Intensivstation  zu verbringen oder einen Arm zu verlieren, ist nicht so cool“, sagt die Chirurgin.

Kooperation initiiert

Viktoria König ist es auch gewesen, die sich 2022 nach einer Serie von Stromunfällen an die ÖBB gewandt hat, um Schulungen zu initiieren. Zum ersten Mal war sie am Mittwoch nun auch selbst dabei, Fortsetzungen soll es geben.  Eine Zusammenarbeit mit den Wiener Linien kam dagegen nicht zustande. Strom sei nicht das relevanteste Thema, sagt ein Sprecher der Wiener Linien. Zumal  es bei den U-Bahnen keine Oberleitung gibt. Appelliert wird aber auch hier, das Surfen auf Zügen zu unterlassen.  Erst vergangenes Jahr kamen nämlich auf der Linie U4 zwei Burschen ums Leben. Sie  prallten gegen eine Fußgängerbrücke. 

Wie in den meisten Fällen habe  es sich auch hier um eine Mutprobe gehandelt. Befeuert werde das Phänomen durch Social Media, sagt König. Präventionsarbeit sei deswegen nötiger als je zuvor. 

Fotos, die man Kindern nicht zeigen kann

Und obwohl sie die Arbeit der ÖBB schätze,  seien die den Schülern gezeigten Videos und Bilder vergleichsweise harmlos. Betrachtet man Fotos von  Opfern, ist die Haut nämlich richtig verkohlt, das Fleisch aufgeplatzt, amputierte Gliedmaßen keine Seltenheit. Sie sitze aber zwischen den Stühlen, sagt König. Die Fotos könne man den Kindern nicht zeigen, aber nur so erkenne man die Dramatik der Situation.  Schulungen für ältere Schüler gibt es derzeit noch nicht, sie wären aber möglich, so ein ÖBB-Sprecher.

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