Die blutige Spur der Terrorgruppe NSU
Vor fünf Jahren flog in Deutschland der " Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) auf. Seit mehr als drei Jahren läuft in München der Prozess gegen Beate Zschäpe & Co., es gab und gibt viele Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern. Morde, Sprengstoffattacken, Raubüberfälle und ein Prozess. Die rechtsextreme Terrorgruppe hat eine Spur der Gewalt durch Deutschland gezogen.
Jänner 1998: Nach einer Razzia in ihrer Bombenwerkstatt in Jena tauchen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe unter.
September 2000: Die Mordserie beginnt: Mundlos und Böhnhardt erschießen den türkischen Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg.
Juni 2001: Der Türke Abdurrahim Özüdogru wird in seiner Änderungsschneiderei in Nürnberg erschossen. Sein Landsmann Süleyman Tasköprü stirbt in Hamburg.
August 2001: Mord an dem Gemüsehändler Habil Kilic in München.
Februar 2004: In Rostock wird der Imbiss-Verkäufer Mehmet Turgut erschossen.
Juni 2004: Eine Nagelbombe explodiert in der Kölner Keupstraße. Mehr als 20 Menschen werden verletzt, einige lebensgefährlich.
Juni 2005: Mord an dem Imbiss-Inhaber Ismail Yasar in Nürnberg. Wenige Tage später stirbt der Grieche Theodoros Boulgarides in seinem Münchener Schlüsseldienst.
April 2006: In Dortmund wird der türkischstämmige Kioskbetreiber Mehmet Kubasik erschossen. Zwei Tage später treffen tödliche Schüsse Halit Yozgat in seinem Kasseler Internet-Cafe.
April 2007: Die Täter erschießen in Heilbronn die Polizistin Michele Kiesewetter. Ihr Kollege wird schwer verletzt.
November 2011: Sparkassen-Überfall in Eisenach. Böhnhardt und Mundlos verstecken sich in einem Wohnmobil. Den Ermittlern zufolge erschießen sie sich, als die Polizei sie entdeckt. Zschäpe zündet die gemeinsame Wohnung in Zwickau an, kurz darauf stellt sie sich in Jena.
Jänner 2012: Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags nimmt in Berlin seine Arbeit auf.
Juni 2012: Es wird bekannt, dass beim Verfassungsschutz Akten vernichtet wurden, nachdem die Terrorgruppe aufgeflogen war. Wegen der schweren Ermittlungspannen räumt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, im Juli seinen Posten.
November 2012: Die deutsche Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Zschäpe.
Mai 2013: Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und von weltweitem Medieninteresse begleitet, beginnt in München der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und mehrere Mitangeklagte.
August 2013: Der U-Ausschuss legt seinen Abschlussbericht vor. Er wirft den Sicherheitsbehörden schwere Versäumnisse bei den Ermittlungen gegen die Terrorzelle vor.
November 2015: Der Deutsche Bundestag beschließt einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss. Er soll sich vor allem auf das Umfeld und die Unterstützer des Terror-Trios konzentrieren und die Rolle von V-Leuten ins Visier nehmen.
September 2016: Nach dreieinhalb Jahren, am 313. Verhandlungstag, ergreift Zschäpe zum ersten Mal persönlich das Wort - für eine kurze Erklärung. Sie bedauere ihr "Fehlverhalten", und sie verurteile, was ihre Freunde Mundlos und Böhnhardt ihren Opfern "angetan haben".
- Rätselhaft ist bis heute der Fall Kiesewetter: Die Polizistin war das zehnte Todesopfer der NSU-Terroristen - nachdem zuvor neun ausländischstämmige Gewerbetreibende ermordet worden waren. Warum musste sie sterben? Für Spekulationen sorgte lange, dass Kiesewetter wie Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt aus Thüringen stammte. Die Bundesanwaltschaft und auch ein Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg kamen aber zu dem Schluss, dass Kiesewetter und ihr Streifenpartner damals zufällig Opfer des NSU wurden.
- War das Zufall? Bei der Ermordung des Internetcafe-Besitzers Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel war auch Verfassungsschützer Andreas Temme am Tatort. Er surfte nach eigenen Angaben in einem Nebenraum privat im Internet, von der Tat habe er nichts bemerkt. Temme stand zeitweise sogar unter Mordverdacht, die Ermittlungen wurden aber später eingestellt. Und das Münchner Oberlandesgericht bewertete Temmes Abgaben in einem Beschluss aus diesem Sommer als glaubwürdig.
- Daran haben vor allem Nebenkläger im NSU-Prozess massive Zweifel: War der NSU wirklich eine in sich geschlossenen Terrorgruppe, wie die deutsche Bundesanwaltschaft in der Anklage argumentiert? Oder gab es nicht doch mehr Mitwisser und Unterstützer als bisher bekannt? Gab es beispielsweise Kumpane, die spätere Mordopfer ausspähten? Wie wählten die NSU-Terroristen ihre Opfer aus? Viele dieser Fragen werden - so schmerzlich dies für die Angehörigen auch ist - wohl offen bleiben.
- Waren Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt wirklich durchgehend als Trio beisammen? Daran gibt es begründete Zweifel. Vor allem Mundlos soll sich immer wieder für einige Zeit gelöst und möglicherweise andernorts gelebt haben. Zeugen wollen ihn häufiger in Baden-Württemberg gesehen haben. Belegt ist ein Anruf von ihm aus der Schweiz. Zschäpe selber hatte aussagen lassen, sie habe viel Zeit allein in der Fluchtwohnung des Trios verbringen müssen. Dazu passt, dass der Strom- und Wasserverbrauch für einen Dreipersonenhaushalt ungewöhnlich niedrig war.
- Und diese Frage ist erst vor kurzem dazugekommen, nach dem Nachweis von Böhnhardts DNA am Fundort der getöteten Schülerin Peggy: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Komplexen NSU und Peggy? Oder ist eine Verunreinigung von "Spurensicherungsgerät" der Grund für den DNA-Treffer, und beide Fälle haben doch nichts miteinander zu tun?
Es ist eine Schockwelle, die Anfang November 2011 durch Deutschland geht. Bis dahin gab es nur ein paar linke Antifa-Aktivisten, die beständig über "Neonazi-Terror" sprachen, und es gab die bürgerliche, staatstragende Mehrheit, die das für maßlos übertrieben hielt.
Aber dann liegen am 4. November 2011 Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mit zerschossenen Schädeln in einem Wohnmobil in Eisenach. Drei Tage später stellt sich Beate Zschäpe der Polizei. Die Lawine an Erkenntnis, die losbricht, ist so gewaltig, dass sie sogar die überrollt, die Neonazi-Gewalttätern eh alles zugetraut hatten.
Hasst auf den Staat
Fast 14 Jahre Leben im Untergrund; neun türkisch- oder griechischstämmige Gewerbetreibende in Nürnberg, München, Hamburg, Rostock, Dortmund und Kassel erschossen, Motiv Fremdenhass; eine Polizistin in Heilbronn ermordet, Motiv: Hass auf den Staat; zwei Sprengstoffanschläge mit Dutzenden Verletzten in Köln; 15 Banken ausgeraubt. Nein, teilen die staatlichen Stellen am 5. November 2011 mit, niemand habe eine Ahnung von einer Terrororganisation dieses Kalibers gehabt.
Einer von denen, deren Telefone an diesem Tag unaufhörlich schellen, ist Oliver Platzer, damals wie heute Pressesprecher des bayerischen Innenministeriums. "Es gab ja auch die These, dass das drei durchgeknallte Typen sind, die Morde begehen", sagt er fünf Jahre später. "Aus niederen Instinkten und ohne ideologisches Ziel." Dabei sei man davon ausgegangen, "dass man ein solches ideologisches Ziel ja nur verfolgen kann, wenn man das auch öffentlich macht und Anhänger gewinnt, und das haben die nicht".
Viele Durchsuchungen in der Neonazi-Szene
Doch bald taucht damals das zynische Bekennervideo auf. Die rassistische Musikszene um den NSU wird bekannt oder die federführend von Mundlos betriebene kultische Verehrung des "Führer-Stellvertreters" Rudolf Heß. Mit den drei Buchstaben N, S und U assoziiert nun kaum mehr jemand eine frühere Auto- und Motorradmarke, sondern jedermann das Neonazi-Trio und die Konterfeis Zschäpes, Mundlos' und Böhnhardts.
Auch die Strafverfolger schalten um. Die bisherigen Verdächtigen der Ceska-Morde waren vor allem türkischer Herkunft. Jetzt übernimmt die Bundesanwaltschaft und konzentriert sich allein auf politisch motivierte, rechtsradikale Hintergründe - endlich, denken viele Opfer. In den Wochen nach dem 5. November 2011 gibt es viele Durchsuchungen, Vernehmungen und Festnahmen in der Neonazi-Szene.
Bücher über NSU
In den Monaten danach erscheinen die ersten Bücher über den NSU. Ein Jahr nach dem Auffliegen der Gruppe ist die Anklage gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer des Trios fertig. Anklage wie Bücher entstehen unter großem Zeitdruck - die Bücher wegen der Konkurrenz unter den Autoren, die Anklage wegen der Mahnung des deutschen Bundesgerichtshofs, die U-Haft für Zschäpe dürfe ohne handfeste Gründe nicht ewig fortdauern.
Als der NSU-Prozess in München beginnen soll, ist der Medienandrang so gewaltig, dass das Gericht die Zuteilung der Presseplätze wiederholen muss, auf Anweisung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Derartiges hatte es noch nie gegeben. Im Mai 2013 geht es endlich los.
Nach wenigen Monaten kehrt so etwas wie Routine ein. Im Prozess werden immer öfter feinsinnige juristische Details diskutiert, die mit der Mordserie des NSU manchmal nur abstrakt zu tun haben. Die Reporterschar schrumpft zu einem harten Kern.
Peggys Verschwinden
Es gibt auch immer weniger Leser für die dennoch immer zahlreicheren NSU-Berichte, auch aus den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Die Klickzahlen von NSU-Artikeln in den Internet-Portalen sinken - außer, es steht etwas Besonderes bevor: Neonazi-Anführer Tino Brandt im Zeugenstand, vermummte Geheimdienstler und skandalumwitterte V-Leute, Zschäpes Streit mit ihren Anwälten, Zschäpes Entschluss, ihr Schweigen zu brechen.
Ein solcher Moment war zuletzt auch der Fund von DNA Uwe Böhnhardts bei den sterblichen Überresten der im Jahr 2001 verschwundenen Peggy. Ob Böhnhardt, der NSU oder sein Umfeld etwas mit Peggys Verschwinden zu tun hatten ist zwar völlig offen, aber das Interesse ist wieder groß.
Kann das alles aufgeklärt werden?
Offen ist aber fünf Jahre nach dem Auffliegen des NSU auch, was aus diesem Komplex tatsächlich aufgeklärt werden wird und welche Fragen unbeantwortet bleiben. Das ist vor allem für die Angehörigen der Mordopfer schmerzlich. Warum musste mein Mann oder mein Sohn sterben? Warum gingen die Ermittlungen so lange in eine falsche Richtung? Warum wurden jahrelang eher Angehörige verdächtigt und nicht die wirklichen Täter und ihr Umfeld?
Viele dieser Fragen könnten am Ende, vielleicht für immer, unbeantwortet bleiben. Nur auf eines wird es sicher eine Antwort geben: Wie das Gericht die angeklagte Mittäterschaft Zschäpes bewertet und welche Strafe sie dafür bekommt. Bis dahin dürften vielleicht noch einige Monate vergehen, nicht mehr aber mehrere Jahre.
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