Als Graz vom Nazi-Regime befreit wurde: "Um 2 Uhr sind die Russen gekommen“

In der Nacht zum 9. Mai 1945 kamen die Rotarmisten an: Graz war die letzte Landeshauptstadt, die von dem NS-Regime befreit worden ist.
Die ersten Panzer erreichten den Hauptplatz noch in der Nacht. "Und heute um 2 Uhr früh sind die Russen gekommen" , vermerkte der Geschäftsmann Hanns Hermann Gießauf in seinem Tagebuch: In der Nacht zum 9. Mai wurde Graz vom Nazi-Regime befreit, als letzte Landeshauptstadt Österreichs.
Graz wurde widerstandslos an die Soldaten der 57. Armee der 3. Ukrainischen Front übergeben, die unter dem Befehl Marschall Fedor Tolbuchins stand; jener Mann, der mit seinen Truppen am 13. April Wien befreit hatte. Schon seit Anfang April waren Rotarmisten in der Oststeiermark, und doch: Die Grazer Bevölkerung hatte damit gerechnet, dass westliche Alliierte in die Stadt kommen würden, die Briten nämlich, die von Süden vordrangen.
Denn "vor den Russen hat man Angst gehabt", erinnert sich Gertraud G., „vor den Engländern eigentlich nicht.“
G. ist eine von rund 80 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Historikerin Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, in ihrem jüngsten Buch zu Wort kommen lässt.
Die Angst vor der roten Armee
Darin rekapituliert sie jene elf Wochen, die Graz 1945 unter sowjetischer Besetzung stand, erst im Juli kamen die Briten durch das Zonenabkommen ans Ruder. Durch das Buch zieht sich eine Protagonistin wie ein roter Faden, Johanna Herzog, Dolmetscherin in der sowjetischen Stadtkommandantur: Herzog existierte wirklich, allerdings sind bis auf Namen und Funktion kaum noch Daten über sie vorhanden.

Historikerin Barbara Stelzl-Marx: „Die Menschen haben endlose Kolonnen beobachtet, die über die Ries kommend nach Graz gerollt sind“
Im Buch wird Herzog jedoch zur Erzählerin und führt durch 75 Tage Besatzung, wobei Stelzl-Marx im Namen der Dolmetscherin verbürgte Ereignisse und Fakten präsentiert. "Die Idee war, ein gut leserliches Sachbuch zu konzipieren."
Die Ressentiments in Graz gegen die Rote Armee waren groß. "Während des Nationalsozialismus gab es durch die Propaganda ein extrem negatives Russenbild, das traf auf Vernichtungskrieg und Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion", begründet Stelzl-Marx. "Man hatte Angst, dass es zu Racheaktionen kommen wird."
- Am 29. März 1945 kam die Rote Armee bei Klostermarienburg im Burgenland an, ab 6. April begann sie mit der Befreiung Wiens, was aber nicht ohne Kämpfe abging. Ab Mitte April stand Wien unter sowjetischer Besatzung. Vom Westen und Süden her begannen mit Ende April die anderen Alliierten – USA, Großbritannien und Frankreich – die Befreiung Österreichs.
- Nach dem Ende des NS-Regimes ging die staatliche Kontrolle im wiedererrichteten Österreich auf die Alliierten über. Sie schlossen am 4. Juli 1945 in London das Erste Kontrollabkommen, das unter anderem die Alliierte Kommission (bestehend aus Rat, Exekutivkomitee und weitere unterschiedliche Abteilungen) festschrieb.
- Am 9. Juli folgte das Abkommen über die Besatzungszonen und der Verwaltung Wiens: Die französische Zone umfasste Vorarlberg und Tirol (ohne Osttirol), die britische Zone die Steiermark und Kärnten mit Osttirol, die US-amerikanische Salzburg und Oberösterreich (ohne das Mühlviertel) sowie die sowjetische Niederösterreich, das Burgenland und das Mühlviertel.
- Die Bundeshauptstadt wurde ebenfalls in vier Zonen bzw. Sektoren eingeteilt: Die Bezirke 2, 4, 10, 20 und 21 waren unter sowjetischer Kontrolle, 7, 8, 9, 17, 18 und 19 unter jener der USA. Die Bezirke 6, 14, 15 und 16 gehörten zum französischen Bereich, 2, 5 , 11, 12 und 13 zum britischen Sektor. Der erste Bezirk wurde als "interalliierter Sektor" ausgehandelt wurde: Er wurde monatlich abwechselnd von einer der vier Mächte verwaltet.
Die Alliierten blieben zehn Jahre: Am 15. Mai 1955 wurde der Staatsvertrag beschlossen. Er trat nach der Ratifizierung durch die fünf Staaten am 27. Juli in Kraft: An dem Tag endete die Besatzungszeit offiziell, die Alliierten bekamen eine Frist von 90 Tagen, abzuziehen.
400.000 Rotarmisten
Wie viele sowjetische Soldaten in Graz stationiert waren, ist nicht bekannt, aber: In ganz Österreich befanden sich am Ende des Zweiten Weltkriegs 400.000 Rotarmisten. Das war eine höhere Anzahl an Soldaten als jene, die alle drei westlichen Alliierten gemeinsam aufboten.

Das Buch von Barbara Stelzl-Marx: „Roter Stern über Graz. 75 Tage sowjetische Besatzung“, 280 Seiten, 28 €, Präsentation: 10.4., 19.30 Uhr, Graz, Buchhandlung Moser.
So kurz der "rote Stern über Graz", wie Stelzl-Marx ihr Buch nannte, auch herrschte, so prägend waren diese elf Wochen für das kollektive Gedächtnis der Stadt.
Ein Grund waren wohl die tatsächlichen Übergriffe und Plünderungen – es gab 2.400 Anzeigen – sowie die Beschlagnahmungen aller Dinge, die einen Wert besaßen, vom kleinen Handkarren bis zur großen Maschinenfabrik.
Auch wenn die Rotarmisten in der Erinnerung als besonders kinderlieb geschildert werden, die Erleichterung, dass künftig Briten das Sagen haben, war groß.
"Es war kein stürmischer, aber ein herzlicher Empfang. Und froh war doch jeder! Jetzt ist der Krieg wirklich aus", notierte Kaufmann Gießauf am 24. Juli in seinem Tagebuch.
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