Graz wurde widerstandslos an die Soldaten der 57. Armee der 3. Ukrainischen Front übergeben, die unter dem Befehl Marschall Fedor Tolbuchins stand; jener Mann, der mit seinen Truppen am 13. April Wien befreit hatte. Schon seit Anfang April waren Rotarmisten in der Oststeiermark, und doch: Die Grazer Bevölkerung hatte damit gerechnet, dass westliche Alliierte in die Stadt kommen würden, die Briten nämlich, die von Süden vordrangen.
Denn "vor den Russen hat man Angst gehabt", erinnert sich Gertraud G., „vor den Engländern eigentlich nicht.“
G. ist eine von rund 80 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Historikerin Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, in ihrem jüngsten Buch zu Wort kommen lässt.
Die Angst vor der roten Armee
Darin rekapituliert sie jene elf Wochen, die Graz 1945 unter sowjetischer Besetzung stand, erst im Juli kamen die Briten durch das Zonenabkommen ans Ruder. Durch das Buch zieht sich eine Protagonistin wie ein roter Faden, Johanna Herzog, Dolmetscherin in der sowjetischen Stadtkommandantur: Herzog existierte wirklich, allerdings sind bis auf Namen und Funktion kaum noch Daten über sie vorhanden.
Im Buch wird Herzog jedoch zur Erzählerin und führt durch 75 Tage Besatzung, wobei Stelzl-Marx im Namen der Dolmetscherin verbürgte Ereignisse und Fakten präsentiert. "Die Idee war, ein gut leserliches Sachbuch zu konzipieren."
Die Ressentiments in Graz gegen die Rote Armee waren groß. "Während des Nationalsozialismus gab es durch die Propaganda ein extrem negatives Russenbild, das traf auf Vernichtungskrieg und Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion", begründet Stelzl-Marx. "Man hatte Angst, dass es zu Racheaktionen kommen wird."
400.000 Rotarmisten
Wie viele sowjetische Soldaten in Graz stationiert waren, ist nicht bekannt, aber: In ganz Österreich befanden sich am Ende des Zweiten Weltkriegs 400.000 Rotarmisten. Das war eine höhere Anzahl an Soldaten als jene, die alle drei westlichen Alliierten gemeinsam aufboten.
So kurz der "rote Stern über Graz", wie Stelzl-Marx ihr Buch nannte, auch herrschte, so prägend waren diese elf Wochen für das kollektive Gedächtnis der Stadt.
Ein Grund waren wohl die tatsächlichen Übergriffe und Plünderungen – es gab 2.400 Anzeigen – sowie die Beschlagnahmungen aller Dinge, die einen Wert besaßen, vom kleinen Handkarren bis zur großen Maschinenfabrik.
Auch wenn die Rotarmisten in der Erinnerung als besonders kinderlieb geschildert werden, die Erleichterung, dass künftig Briten das Sagen haben, war groß.
"Es war kein stürmischer, aber ein herzlicher Empfang. Und froh war doch jeder! Jetzt ist der Krieg wirklich aus", notierte Kaufmann Gießauf am 24. Juli in seinem Tagebuch.
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