Graz: Der erste Schultag nach dem Amoklauf

Kerzen vor Schule
Im Juni wurden neun Jugendliche sowie eine Lehrerin am BORG Dreierschützengasse ermordet. Am Montag kehren die Überlebenden wieder in den Schulalltag zurück.

"Er wollte, dass wir hassen. Dass wir Angst haben. Aber er hat versagt. Weil wir zusammenhalten, komme, was wolle." 
(Schulsprecher Ennio Resnik nach dem Amoklauf)

Fotos lehnen am Zaun. Sie zeigen fröhliche, junge Menschen, die lachen, ein Mädchen formt auf einem Bild ein Herz mit seinen Händen. Kerzen brennen links neben dem Eingang zum BORG Dreierschützengasse, jenem Ort, an dem es am 10. Juni zum schlimmsten Amoklauf der Zweiten Republik kam: Ein 21-Jähriger erschoss in zwei Klassenzimmern neun Schülerinnen und Schüler sowie eine Lehrerin. In einer Toilettenanlage beging er mit einer seiner beiden Waffen – die er legal besessen hatte – Suizid.

Morgen ist nach den Sommerferien wieder Schulbeginn in der Steiermark, auch für rund 200 Jugendliche, die dieses Oberstufenrealgymnasium besuchen, ihre Lehrkräfte, ihre Direktorin. „Wir werden die Schule zurückerobern“, betonte Liane Strohmaier, die das BORG seit 2019 leitet, wenige Tage nach dem Amoklauf in Interviews.

Ortswechsel

Doch an diesem Montag ist es noch nicht so weit, es ist zu früh: Vorerst für ein Jahr weichen die 21 Klassen auf einen Ersatzstandort in der Nähe aus, in ein Gebäude der AVL bei der List-Halle. Dieser Ortswechsel sei extrem wichtig, betont auch der Psychologe. „Es gibt sehr viele unterschiedliche Betroffenheit, viel Ungewissheit“, beschreibt Josef Zollneritsch, lange Jahre auch Leiter der Schulpsychologie in der steirischen Bildungsdirektion. „Im Vordergrund steht nun das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit.“

Diesem Bedürfnis wollen die Behörden größtmöglich nachkommen. Der Schulbeginn am Montag wird mit verstärkter Polizeipräsenz erfolgen und so weit möglich ohne mediale Begleitung, das war vielfacher Wunsch. Am Dienstag wollen dann Lehrerschaft, Eltern- und Schülervertretung Stellung nehmen, wie sie sich eine „sicheren, geordneten und stabilen Neubeginn“ vorstellen können.

Dazu gehört der Umbau des Schulgebäudes, die vom Amoklauf betroffenen Klassenzimmer sowie die WC-Anlage werden umgestaltet, eine Gedenkstätte ist in Planung. „Ein Gedenkort ist wichtig“, überlegt Psychologe Zollneritsch. Aus Respekt gegenüber den Opfern, als Möglichkeit der Überlebenden zu trauern, denn „das Ereignis bleibt ja für immer“.

Die Tat machte fassungslos: Neun Jugendliche und eine Lehrerin wurden getötet.

Die Tat machte fassungslos: Neun Jugendliche und eine Lehrerin wurden getötet.

Parallelen zu Winnenden

Wie diese Gedenkstätte aussehen könnte, ist noch offen, doch es gibt Beispiele anderer, ebenso tragischer Verbrechen an Schulen: Im März 2009 erschoss ein 17-jähriger Amokläufer in der Albertville-Realschule im deutschen Winnenden – wie am Grazer BORG ein Ex-Schüler – neun Schüler und Schülerinnen sowie drei Lehrerinnen. Auf seiner Flucht tötete er weitere drei Menschen.

Im März 2014 wurde die Gedenkstätte im Stadtgarten eröffnet, ein tonnenschwerer, zerbrochener Ring. Bereits zweieinhalb Jahre zuvor, im Oktober 2011, kehrten Lehrkräfte und Schüler aus ihren Ersatzunterrichtsquartieren in das Schulhaus zurück. Im Grazer BORG hofft man, nach einem Jahr im Ausweichquartier wieder in das Stammhaus zurückzukönnen.

Erhöhte Sensibilität

Doch ob altes Gebäude oder Ersatzquartier – wie den Jugendlichen, ihren Eltern oder ihren Lehrern die Angst nehmen, die möglicherweise mit dem Schulstart aufkommt? Die psychische Belastung könne groß sein, betont Zollneritsch. „Ganz wichtig ist erhöhte Sensibilität, die Kinder schützen und stärken.“ Innen- und Bildungsministerium kündigten generell verstärkte Sicherheitsschulungen für Lehrer an, zudem soll in allen Schulen ein „standardisiertes Bedrohungsmanagement“ etabliert werden, die Polizei soll Sicherheitskonzepte überprüfen und weiterentwickeln.

Auch hier könnte die Albertville-Realschule in Winnenden beispielgebend sein: Dort wurden etwa die Türen zu den Klassenzimmern nach dem Amoklauf so umgebaut, dass die Schüler sie immer im Blick haben, also nicht mit dem Rücken gegen sie sitzen müssen: Der Schütze hatte die Klassen von hinten betreten, seine Opfer hatten ihn nicht kommen sehen. Zudem wurden in jedem Klassenraum Alarmknöpfe installiert, die – wie bei Banken oder Juwelieren – direkt bei der Exekutive landen. Doch einschließen wolle und könne man sich nicht, hatte der Winnender Bürgermeister Norbert Sailer damals betont: „Wir möchten ein offener Teil der Gesellschaft bleiben.“

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