Das Paar aus der Nachbarwohnung streitet schon eine ganze Weile lautstark, nun scheint die Situation zu eskalieren. Die Frau schreit, sie klingt verängstigt, man hört lautes Klirren.
Der Vorgesetzte zeigt der neuen Kollegin häufig etwas auf ihrem Bildschirm, dabei steht er hinter ihr und massiert ihr die Schultern. Der Kollegin ist das sichtlich unangenehm.
In der U-Bahn kommentiert eine Gruppe betrunkener junger Männer lautstark und derb das Aussehen der ein- und aussteigenden Frauen.
Beispiele, die sich viel zu oft im ganz normalen Alltag ereignen – und deren Zeuge man unfreiwillig wird. Doch mit der Zeugenschaft geht auch eine gewisse Verantwortung Hand in Hand. Zivilcourage ist gefragt. Dass das oft leichter gesagt als getan ist, weiß auch Joanna Quehenberger. Die zertifizierte Kommunikationsexpertin und Trainerin beim Verein ZARA - Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit, begleitet Gruppen durch die Rettungsanker-Workshops, die im Vorjahr in Kooperation mit dem Frauenservice Wien ins Leben gerufen wurden.
Erschreckende Zahlen
Sie sind dringend nötig, wie auch eine aktuelle Studie der Vienna Club Commission (VCC) zeigt. Demnach wurden 75 Prozent aller Befragten bereits Opfer von sexueller Belästigung – also ungewollten Berührungen, Bedrängung, ungewollten Küssen, Anstarren, Verfolgung und verbalen Übergriffen.
„Sexuelle Belästigung von Frauen zieht sich durch alle Gesellschaftsbereiche“, sagt Quehenberger im Gespräch mit dem KURIER; oft genug kämen auch Machtgefälle dazu. Umso wichtiger sei es also, das nötige Rüstzeug zu haben, Betroffenen in derart unangenehmen und bedrohlichen Situationen beizustehen.
Paradox eingreifen
Beim Beispiel mit der Nachbarwohnung, sagt Quehenberger, gibt es gleich mehrere Strategien, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops gemeinsam durchgearbeitet hätten. Denn bis zum Eintreffen der Polizei – so man diese verständigt hat – können kritische Minuten verstreichen.
„Das Ziel in dem Fall ist, schnell zu unterbrechen, was da gerade vor sich geht. Gleichzeitig will man aber auch nicht zu einer weiteren Eskalation beitragen.“ Eine Möglichkeit sei dann etwa, anzuläuten und nach Milch zu fragen. Das wäre dann eine paradoxe Intervention, die den Konflikt scheinbar ignoriert, die Situation aber vorübergehend entschärft. „Man signalisiert damit dem Täter auch ,Wir hören euch’.“ Eine andere Möglichkeit sei, im Stiegenhaus gut sichtbar Zettel mit Kontakten zu Frauennotruf und -beratungsstellen aufzuhängen, oder der betroffenen Frau so einen Zettel zuzustecken.
5D-Methode/5A-Methode
Dient als Eselsbrücke in überfordernden Situationen: Distract/ Ablenken:
Nach der Uhrzeit fragen, nach dem Weg fragen, so tun als würde man die belästigte Person kennen Delegate/ Andere hinzuziehen:
Busfahrer, Security, Anwesende Document/ Aufnehmen:
Filmen oder Fotos machen und dem Opfer auf Wunsch zur Verfügung stellen Delay/ Aufschieben:
Der Betroffenen nach dem Vorfall beistehen, Unterstützung anbieten Direct/ Ansprechen:
Täter und betroffene Person direkt konfrontieren. Nur als letzten Ausweg verwenden. Auch bei Zivilcourage ist der eigene Schutz das Wichtigste
Workshoptermine unter zara.or.at
24-Stunden-Frauenhelpline: 0800/222555
Klein beginnen
Durch den Austausch in der Gruppe und die gemeinsam entwickelten Strategien, sagt die Expertin, werde der sogenannte Mutmuskel trainiert. „Man übt seine Reaktionsfähigkeit. Viele Menschen haben schon als Kind gelernt, sich mit Kritik und der eigenen Meinung zurückzuhalten. So wird das öffentliche Eingreifen eine noch größere Überwindung.“
Aber man könne gut schon im Kleinen trainieren. Rede etwa jemand in geselliger Runde über Frauen als „Schlampen“, solle man gleich sagen, dass das nicht in Ordnung ist. „So würde ich das üben, mit kleinen Situationen beginnen und sich dann steigern. Es wird dann auch immer leichter, weil man lernt, seiner Einschätzung zu vertrauen.“
Und zwar auch dann, wenn man selbst betroffen ist: „Die Belästigung von Frauen ist oft schon so normalisiert, dass ihnen z. B. beim Fortgehen an den Po gefasst wird. Das ist den Betroffenen dann zwar unangenehm, aber sie haben selbst oft nicht das Bewusstsein dafür, dass das wirklich ein Übergriff war.“
Zu viele Zuschauer
Die bisherigen Rückmeldungen der Workshop-Gruppen waren durchwegs positiv, erzählt Quehenberger: „Eine Teilnehmerin meinte, dass sie das Gefühl hat, Außenstehende mischen sich immer weniger ein, wenn sie Zeugen von Übergriffen und Ungerechtigkeit werden. Und sie wolle als Bürgerin den moralischen Standard wieder höher heben.“
Über eine Sache solle man sich im Klaren sein, sagt die Trainerin: „Rechnen Sie nicht mit Beifall, wenn Sie Zivilcourage zeigen.“ Denn oft genug werden gerade jene, die sich für andere einsetzen, selbst von Außenstehenden angegangen. Dabei ist es bei Vorfällen mit vielen Zeugen besonders wichtig, zivilcouragiert aufzutreten. Denn je mehr Zuschauer, desto niedriger ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand helfend eingreift – man nennt das den Bystander-Effekt (Zuschauereffekt). Dadurch entsteht der Eindruck, es gebe genügend andere Leute, und irgendwer anderes wird schon eingreifen.
Es reicht aber eine mutige Stimme, um den Bann zu brechen.
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