Hochprozentige Verführung: Wie viel Verantwortung tragen Konzerne?
Beim Weinregal hat es Herr S. erfolgreich vorbeigeschafft, nun möchte er seine Einkäufe bezahlen und den Supermarkt verlassen. Verlockend stehen die kleinen Flaschen im Regal direkt vor der Kassa. Ein dezenter Griff und schon liegt das Hochprozentige bei den anderen Waren auf dem Band. Nach dem Zahlen wird die erste Flasche geext, die gefährliche Suchtspirale beginnt sich wieder zu drehen.
Warum wird noch immer Alkohol in kleinen Gebinden direkt an der Supermarktkassa verkauft? Wollen Großkonzerne Geld mit Suchtkranken verdienen? Wo endet die gesellschaftliche und wo beginnt die Eigenverantwortung? Was halten Suchtmediziner von Hochprozentigem in kleinen Gebinden und wie geht es jemandem, der trockener Alkoholiker ist und bei der Kassa zahlen muss?
Der KURIER hat Antworten auf diese Fragen gesucht – und gefunden.
Entscheidung der Filiale
„Wir versuchen, mehr und mehr Gesünderes in den Kassaregalen anzubieten. Diese Empfehlung gibt es aus der Konzernleitung. Wie sie dann umgesetzt wird, liegt bei den Verantwortlichen in den einzelnen Filialen.“ Paul Pöttschacher ist Konzernsprecher der Rewe-Gruppe, zu der unter anderem Billa, Penny und Adeg gehören. Mittlerweile gebe es schon einige Filialen, die gar keinen Alkohol mehr vor den Kassen anböten.
Was sich positiv auswirkt: Dass immer mehr Selbstbedienungskassen entstehen, „dort gibt es sowieso keine zusätzlichen Produkte zu kaufen“, so Pöttschacher. Abgesehen davon wolle man nicht zu sehr mit dem erhobenen Zeigefinger agieren: „Österreich ist beim Wein- und Bierkonsum unter den Spitzenreitern in Europa. Es greift zu kurz, die Verantwortung dafür dem Handel aufzubürden. Wo sind die Kampagnen für einen verantwortungsvollen Alkoholkonsum? Die Bewusstseinsbildung muss viel früher passieren.“
Seit vier Jahren ist Hans R. trocken und lebt auf einem Integrationshof in Oberösterreich. Nach seiner Scheidung und Pensionierung ging es los mit dem übermäßigen Alkoholkonsum. Er fühlte sich alleine in seiner Wohnung, begann, ins Wirtshaus zu gehen. „Dort habe ich Saufkumpanen gefunden“, erzählt er. Vorher genoss Herr R. das Achterl Wein oder das Bier zum Gulasch in Maßen. Das wird auch nach dem Entzug und vier erfolgreichen, trockenen Jahren nie wieder möglich sein: „Diese Krankheit behält man sich sein Leben lang.“
Das Einkaufen im Supermarkt sei mittlerweile kein Problem mehr für ihn, so der 70-Jährige, „manche erliegen aber sehr wohl der Versuchung, wenn sie den Alkohol da stehen sehen“. Zu Beginn des Entzugs und der Therapie wurde R. begleitet beim Einkaufen und „reinschmuggeln kann man auch nichts. Das wird kontrolliert.“
Im Moment fühle er sich gefestigt, sagt Hans R.: „Das kann aber in vier Wochen schon wieder ganz anders aussehen.“
Rainer Schmidbauer ist der Leiter des Instituts für Suchtprävention von pro mente in Oberösterreich. Er hat täglich mit Suchtkranken zu tun. „Das Bewusstsein dafür, dass Alkohol kein normales Konsumgut, sondern stark risikobehaftet ist, muss viel größer werden.“
In Österreich habe man sich gesellschaftlich darauf geeinigt, dass Alkohol zur Kultur gehöre, es gebe eine hohe, gesellschaftliche Akzeptanz. Das sei nicht selbstverständlich und in anderen Ländern ganz anders.
Die Platzierung von Alkoholika an den Supermarktkassen findet Schmidbauer „besonders problematisch. Es sind harte Getränke in kleinen Gebinden. Es gibt keinen einzigen Grund, warum das dort stehen sollte. Außer jemand will maximal verkaufen.“
Wie viele?
Geschätzte 340.000 Menschen in Österreich gelten derzeit als alkoholabhängig, nahezu jeder vierte Erwachsene konsumiert Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß
Wer?
In den letzten Jahren hat der Anteil der Frauen unter den Alkoholkranken deutlich zugenommen, während jener der Männer leicht sinkt. Rund 10 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Alkoholsucht und brauchen eine Therapie
Ab wann?
Von problematischem Konsum ist die Rede, wenn Männer 60 g und Frauen 40 g Alkohol pro Tag zu sich nehmen. Das sind zum Beispiel drei große Bier.
Trend zu Alkoholfreiem
Abgesehen von der nach wie vor hohen gesellschaftlichen Akzeptanz sei aber auch ein Trend in die Gegenrichtung zu bemerken: In Betrieben ist es immer seltener Usus, gesellig Alkohol zu konsumieren, das Interesse an alkoholfreiem Sekt und Wein nimmt speziell unter jungen Menschen zu. „Das sehen wir auch in den Filialen, dass alkoholfreie Weine und Bier immer mehr nachgefragt werden“, sagt Paul Pöttschacher von der Rewe-Gruppe.
Wie rechtfertigen andere Ketten den Verkauf von Alkohol direkt an der Kassa? „Hofer verkauft im Kassenbereich praktische Artikel und kleine Produkte wie Gutscheine, Kaugummis oder auch Alkohol in kleinen Gebinden. Wir sind jedoch um eine dezente Platzierung bemüht, die im Kassenbereich nicht hervorsticht“, heißt es seitens der Hofer KG. Auf die Frage nach der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit und Verantwortung als Konzern gab es keine Antwort, aber: „Die Vinothek befindet sich bewusst im hinteren Bereich der Filialen.“
Immer wieder werden die nordischen Länder als Beispiel dafür angeführt, wie Gesellschaft und Politik Verantwortung für den Umgang mit Alkohol übernehmen können.
Diese Länder haben diesbezüglich eine lange Geschichte und stehen nach wie vor vor komplexen Problemen mit starkem episodischem Alkoholkonsum. Mittlerweile haben sie besonders rigorose Vorschriften verfügt, die zur Verringerung alkoholbedingter Schäden führen sollen. Aktuell ist der Alkoholkonsum in den nordischen Ländern, also Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden, niedriger als in den meisten Ländern der Europäischen Union.
Es überrascht nicht, dass Alkohol in diesen Ländern meist nicht wie eine gewöhnliche Ware behandelt, sondern streng reguliert wird.
Als Schlüsselelemente für Erfolg nennt die Weltgesundheitsorganisation unter anderem: Verbote oder Beschränkungen für Alkoholwerbung, Besteuerung und Preisgestaltung, Beschränkung der Verfügbarkeit von Alkohol.
Lidl macht es sich ganz leicht: „Wir haben das Angebot an alkoholischen Getränken im Kassabereich in den vergangenen Jahren bereits stark eingeschränkt. Aktuell ist nicht angedacht, die Verkaufspraxis zu ändern. Wir halten uns weiterhin an die gesetzlichen Vorgaben.“
Nicole Berkmann, Spar-Sprecherin, sagt: „Wir haben als Nahversorger viele verschiedene Bedürfnisse zu befriedigen und möchten niemanden bevormunden. Für Menschen, die ein Problem mit Alkohol haben, ist der Einkauf von Lebensmitteln allgemein schwierig. Wenn wir im Supermarkt die kleinen Fläschchen an der Kassa weggeben, kaufen die Betroffenen eben eine Flasche anderen Alkohol aus dem Regal oder sie gehen ins nächste Wirtshaus.“
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